Stadtluft macht neu
Viele Lebewesen folgen dem Menschen dorthin, wo er sich massiert, in seine Siedlungen. Mit jenen treibt er auch ihre Evolution voran.
Als im 19. Jahrhundert die industrielle Revolution die Luft über Städten Englands verdüsterte, geriet auch ein Falter in Bedrängnis, der Birkenspanner, Biston betularia. Dieser hat seinen Namen von den Bäumen, auf deren Rinde er gern sitzt, er hatte seine Farbe an ihre angeglichen, war hell mit dunklen Tupfen. Das tarnte perfekt, aber es nützte nichts mehr, als die trübe Luft sich auf den Birken absetzte. Der Falter fand einen Ausweg, er färbte sich auch um, wurde dunkel.
Das war das erste Mal, dass eine Umweltveränderung durch den Menschen ein Tier zur Anpassung veranlasste, Bernard Kettlewell (Oxford) bemerkte es in den 1950ern (Heredity 9, S. 323). Die These war umstritten, Laurence Cook (Manchester) bestätigte sie 2005, da hatten Luftreinhaltemaßnahmen gegriffen, das alte Genprogramm lag noch bereit, die Birkenspanner wurden wieder hell (Heredity 96, S. 522).
Wird der Mensch so – unabsichtlich – zu einer Macht der Evolution, vor allem dort, wo er sich zusammenballt und viele Tiere ihm folgen, in den Städten?
Dort ist es relativ sicher, dort drohen kaum Räuber (und keine Jäger), so streifen Wildschweine durch Außenbezirke, und die Amseln, die man früher nur aus weiter Ferne zu Gesicht bekam, haben jede Scheu verloren, sie haben Aktivitäten des Gens Sert zurückgefahren, das zur Vorsicht mahnt (Mol. Ecol. 22, S. 3629); dort ist reichlich gedeckt, Ratten wussten es immer schon, Krähen haben es vor Fast-Food-Restaurants gelernt. Dort ist auch sonst vieles anders, die Geräuschkulisse etwa: Sie veranlasst Vögel zum Ändern des Gesangs, und Tungara-Frösche haben in Panama City – geschützt vor Fledermäusen – ihr Quakrepertoire so verlockend erweitert, dass es auch Weibchen vom Land besser gefällt als das ihrer dortigen Artgenossen ( Nature Ecology & Evolution, 3, S. 374). Ähnliche Beispiele gibt es viele, zuletzt zeigten Eidechsen, dass sie im rascheren Wandel städtischer Umwelten selbst rascher lernen ( Biology Letters, 27. 2.).
So plastisch ist das Verhalten. Aber Evolution ist das noch nicht, da muss eine Änderung erst im Genom kommen und dann von der Selektion für gut befunden werden. Ob so etwas geschehen ist, erhebt Lindsay Miles (Richmond) in den USA an wenig willkommenen Stadtgenossen: Schwarzen Witwen. Über 200 hat sie in Las Vegas aufgespürt und ihre Gene mit denen von Artgenossen aus dem Umland verglichen (The Scientist, 1. 1.): Die Genome in der Stadt haben eine höhere Vielfalt und sind einander doch ähnlicher, Miles sieht den Grund darin, dass die Spinnen oft in Autos nisten und von ihnen über größere Distanzen transportiert werden (Molecular Ecology 27, S. 3219). Ratten in New York. Aber in Städten gibt es auch Barrieren, das fiel Matthew Combs (Fordham University) am zweithäufigsten – oder häufigsten? – Bewohner von New York auf, der Braunen Ratte (Rattus norvegicus). Ausgangspunkt war eine Studie seines Kollegen Jason Munshi-South, der an Weißfußmäusen in der Stadt bemerkte, dass sich in Parks isolierte Populationen gebildet hatten, weil der Asphaltdschungel für sie schwer durchquerbar ist ( Biology Letters 12: 20150983). Ratten haben damit weniger Probleme, aber Combs fand in Manhattan ein eigenartiges Verteilungsmuster: Es gibt zwei Populationen, eine Uptown, eine Downtown, die dazwischen liegende Midtown ist spärlich besiedelt und wird auch selten durchquert: Dort lockt wenig Müll, dort droht viel Verkehr (Molecular Ecology 27, S. 83).
Ein anders differenziertes Bild fand Joscha Beninde bei Eidechsen in Trier: Manche Strukturen der Stadt, wie Gärten, verbinden, andere, etwa Gewässer, trennen. Mauerwerk hingegen ist willkommen, an seine Oberflächen haben die Tiere sich bzw. ihre Gliedmaßen angepasst ( Molecular Ecology 25, S. 4984). Andere, eher unliebsame Mitbewohner bleiben dort, wo sie einmal eingezogen sind bzw. eingeschleppt wurden, Kakerlaken halten es so ( Science 340, S. 972), Bettwanzen auch (Med. Entomol. 53, S. 727).
Das alles ist immer noch keine Evolution, allenfalls eine Voraussetzung, die der genetischen Vielfalt; zu deren Steigerung tragen Städte auch mit einer Vielzahl von Giften bei, die die Mutationsraten erhöhen, Carole Yauk (McMaster University) bemerkte es früh an Möwen in Häfen Kanadas (Pnas 93, S. 12137); ihr Kollege James Quinn erhob es später an Mäusen neben Stadtautobahnen ( Science, 304, S. 1008). Aber in Städten gibt es nicht nur Gebäude und Industrie und Autos und Straßen, sie alle sorgen auch dafür, dass es wärmer wird als im Umland. Das veranlasste Wasserflöhe in Flandern, eine höhere Wärmetoleranz zu entwickeln (Global Change Biology 23:5218), und es veranlasste Ken Thompson (Toronto) zu einem näheren Blick auf eine Pflanze, den Weißklee, Trifolium repens: Er wehrt sich gegen gefräßige Mäuler mit Cyanwasserstoff (Blausäure), aber dieser macht ihn empfindlich gegen Kälte. Johnson postulierte also, dass Klee in Städten üppiger ausgestattet ist, er sammelte Pflanzen in Toronto, Boston und New York.
„Es war umgekehrt, in diesen Städten waren die Gehalte geringer als auf dem Land“, musste der Forscher lernen, er fand auch den Grund: Städte sind nicht nur Wärmeinseln, sie kühlen auch stark aus, temporär, im Winter. Dann schmilzt Schnee am Tag rasch weg, und in den Nächten isoliert er die Erde nicht gnädig wie um die Städte herum (Proc. Roy. Soc. B 2016.2180).
Daran hat der Klee sich angepasst, an die Kälte, und das ist nun Evolution, so wie bei den Birkenspannern, und so wie bei Fischen, Kärpflingen, die sich an der US-Ostküste auf Giftstoffe aus städtischen Abwässern, PCB, eingestellt haben ( Science 354, S. 1305). Solche Fische sind, als jüngste Wendung, mit Ballastwasser an die Westküste gelangt und haben ihre Resistenz in bedrohte Artgenossen eingekreuzt (Science, 3. 5.). Diese drei Beispiele gibt es, mehr nicht. Ein zunächst hoch gehandeltes, das von Moskitos im U-Bahn-System Londons, die sich in der Finsternis und Kühle wohlfühlten, fiel in sich zusammen, als solche Moskitos auch in U-Bahn-Systemen anderer Städte auffielen: Sie hatten keine Evolution durchlaufen, sie waren eingeschleppt worden.
Es muss mehr Beispiele geben, die Forschung ist jung, die Mehrzahl der Arbeiten wurde in den vergangenen fünf Jahren publiziert. Und ein Stadtbewohner ist überhaupt noch nicht ins Visier geraten, obgleich heute schon die Hälfte seiner Population in Städten lebt, 2050 werden es zwei Drittel sein.
Städte ändern das Verhalten: Früher kaum sichtbare Amseln haben jede Scheu verloren. Städte ändern das Genom: Weißklee hat sich an eisige Winternächte angepasst.