»Unseren buntesten Vogel haben wir schon verloren«
Der Weltrat für Biodiversität der UNO schlägt in seinem ersten globalen Bericht Alarm: Die Menschheit verursache ein dramatisches Artensterben, das ihre eigene Existenz bedrohe. Wie schlimm ist es wirklich? In welcher Form ist Österreich betroffen? Und wi
In Sachen Klimawandel sind wir ja alarmiert. Nun bricht mit dem Bericht des UN-Biodiversitätsrates ein neues Thema mit derselben apokalyptischen Rhetorik über uns herein: Bis zu einer Million Arten seien bedroht, es drohe ein Massensterben. Unsere Zivilisation stehe auf dem Spiel, es sei fünf vor zwölf, wir müssten sofort handeln . . . Von solchen Appellen fühlen sich viele nur noch überfordert. Verstehen Sie das? Stephan Koblmüller: Es ist sehr drastisch formuliert in der Zusammenfassung für die Politiker. Aber das ist nötig, damit überhaupt etwas passiert. Warum haben die Biologen nicht schon früher so eindringlich vor den Gefahren gewarnt? Haben auch die Experten das Ausmaß des Problems unterschätzt? Franz Essl: Der Bericht fasst nur vorhandenes Wissen zusammen. Nichts, was da drinsteht, ist per se neu. Es stammt aus Studien, die der Fachwelt bekannt waren. Koblmüller: Der Bericht verlinkt auch die Erkenntnisse der Biologen mit anderen Fachbereichen, wie ÖkosystemDienstleistungen und Ökonomie. Man sieht in Summe, wie sich vieles zum Schlechteren verändert und wie groß die Gefahren sind. Was viele Laien überrascht: Es ist nicht nur schade, wenn ein schöner Schmetterling verschwindet oder ein Vöglein nicht mehr singt. Sondern es geht angeblich, wieder einmal, ums Überleben der Menschheit . . . Essl: Das Verschwinden einzelner Arten muss keine Besorgnis erregen. Es kann uns emotional treffen, aber aus einer reinen Nutzensicht ist es für uns unerheblich. In der Evolution lösen neue Arten alte ab. Aber nun ist der Mensch zur dominanten Kraft geworden. Das Tempo, mit dem er Lebensräume zerstört, ist in der Erdgeschichte beispiellos. Intakte Ökosysteme sind unsere Lebensgrundlage. Das ist Stadtbewohnern nicht mehr bewusst, weil die Zusammenhänge aufgelöst sind – die Lebensmittel kommen aus dem Supermarkt. Aber die Abhängigkeit bleibt. Wovon sind wir abhängig? Essl: Ökosysteme mildern Umweltextreme ab: Auen gegen Hochwasser, Schutzwälder gegen Lawinen und Mu
Seiten
hat der Bericht, den der Diversitätsrat der UNO am Montag veröffentlicht hat.
Experten
aus 50 Ländern haben daran mitgewirkt.
Staaten
haben den Bericht unterzeichnet.
Millionen
Tier- und Pflanzenarten kennt man auf der Erde. Davon sind eine halbe bis eine Million bedroht. Umsonst gesucht: Die Blauracke dürfte in Österreich ausgestorben sein. ren, Mangroven gegen Tsunamis und Wirbelstürme. Jedes System ist belastbar, solange es sich regenerieren kann. Wir dürfen aber seine Kapazität nicht überfordern. Ist der Kipppunkt überschritten, dann leiden auch die Leistungen des Systems für uns. Wenn es verarmt, weil seine Arten aussterben, gerät es aus dem Lot. Koblmüller: Es können etwa Schädlinge überhandnehmen, für die der natürliche Feind fehlt. Solcher Vernetzungen und Kettenreaktionen sind sich die wenigsten bewusst. Was kann uns Österreichern passieren? Essl: Der Borkenkäferbefall in den Wäldern ist zum Teil eine Folge der Fichtenmonokultur. Wenn in der Landwirtschaft die Bestäuber, etwa Bienen, zurückgehen, fällt irgendwann die Ernte bei Obst und Gemüse aus. Oder das Trinkwasser: Ökosysteme dienen als Filter. Sie entfernen übermäßig vorhandene Stoffe, speichern sie oder wandeln sie um und geben gereinigtes Wasser wieder ab. Wenn diese Funktion gestört ist, haben wir kein sauberes Wasser mehr. Für vieles finden wir Ersatz: Die Bauern kaufen Bestäuber zu, Bienen und Hummeln in Boxen. Wenn der Fisch im Meer knapp wird, steigen wir auf Aquakultur um. Lassen sich Versorgungsprobleme nicht so lösen? Koblmüller: Das ist naiv gedacht. Die Hummeln, die man einsetzt, kommen meist aus Holland. Auch die Bienen sind oft gebietsfremd. Da besteht die Gefahr, dass sie Parasiten einschleppen, die sich hier erst richtig vermehren, weil ihre Feinde fehlen oder weil sie ein besseres klimatisches Umfeld vorfinden. Der Parasit kann auch auf heimische Arten überspringen, die nicht an ihn angepasst sind. Das ist in Norwegen passiert, wo man fremde Lachse in Aquakulturen eingesetzt hat. Da hat ein Wurm, der in der Ursprungsregion gar kein Problem ist, zu massiven Ausfällen geführt. Das sind keine Einzelfälle, sondern immer eine latente Gefahr. Darüber wird man öfter stolpern. Den Klimawandel kriegen wir hautnah mit: Wir schwitzen im Sommer mehr als früher. Das Artensterben wirkt weniger greifbar. Koblmüller: Wenn Sie früher mit dem Auto übers Land gefahren sind, haben Sie die Windschutzscheibe ständig putzen müssen. Heute ist dieser Insektendreck selten geworden. Das ist eine Erfahrung, die jeder machen kann. Essl: Die Erinnerung reicht bei so schleichenden Veränderungen nie lang zurück. Der Verlust wird nicht wahrgenommen. Ich komme von einem Bauernhof bei Steyr. In meiner Kindheit in den 1980er-Jahren haben dort noch zehn Schwalben gebrütet, heute gar keine mehr. Ähnlich ist es bei den Feldlerchen. Das fällt niemandem auf, außer manchen Landwirten. Aber die Studien zeigen, dass die Biomasse in Österreich massiv zurückgegangen ist. Sind Blumenstreifen auf dem Ackerrand ein wesentlicher Teil der Lösung oder nur ein Tropfen auf dem heißen Stein? Koblmüller: Es ist ein Anfang. Man kann mit solchen Rückzugsgebieten kleinräumig Diversität erhalten. Das sieht man an Bahndämmen: Sie sind echte Hotspots für Vielfalt, wo im Wildwuchs seltene Arten überleben können.