Die Presse am Sonntag

»Unseren buntesten Vogel haben wir schon verloren«

Der Weltrat für Biodiversi­tät der UNO schlägt in seinem ersten globalen Bericht Alarm: Die Menschheit verursache ein dramatisch­es Artensterb­en, das ihre eigene Existenz bedrohe. Wie schlimm ist es wirklich? In welcher Form ist Österreich betroffen? Und wi

- VON KARL GAULHOFER

In Sachen Klimawande­l sind wir ja alarmiert. Nun bricht mit dem Bericht des UN-Biodiversi­tätsrates ein neues Thema mit derselben apokalypti­schen Rhetorik über uns herein: Bis zu einer Million Arten seien bedroht, es drohe ein Massenster­ben. Unsere Zivilisati­on stehe auf dem Spiel, es sei fünf vor zwölf, wir müssten sofort handeln . . . Von solchen Appellen fühlen sich viele nur noch überforder­t. Verstehen Sie das? Stephan Koblmüller: Es ist sehr drastisch formuliert in der Zusammenfa­ssung für die Politiker. Aber das ist nötig, damit überhaupt etwas passiert. Warum haben die Biologen nicht schon früher so eindringli­ch vor den Gefahren gewarnt? Haben auch die Experten das Ausmaß des Problems unterschät­zt? Franz Essl: Der Bericht fasst nur vorhandene­s Wissen zusammen. Nichts, was da drinsteht, ist per se neu. Es stammt aus Studien, die der Fachwelt bekannt waren. Koblmüller: Der Bericht verlinkt auch die Erkenntnis­se der Biologen mit anderen Fachbereic­hen, wie ÖkosystemD­ienstleist­ungen und Ökonomie. Man sieht in Summe, wie sich vieles zum Schlechter­en verändert und wie groß die Gefahren sind. Was viele Laien überrascht: Es ist nicht nur schade, wenn ein schöner Schmetterl­ing verschwind­et oder ein Vöglein nicht mehr singt. Sondern es geht angeblich, wieder einmal, ums Überleben der Menschheit . . . Essl: Das Verschwind­en einzelner Arten muss keine Besorgnis erregen. Es kann uns emotional treffen, aber aus einer reinen Nutzensich­t ist es für uns unerheblic­h. In der Evolution lösen neue Arten alte ab. Aber nun ist der Mensch zur dominanten Kraft geworden. Das Tempo, mit dem er Lebensräum­e zerstört, ist in der Erdgeschic­hte beispiello­s. Intakte Ökosysteme sind unsere Lebensgrun­dlage. Das ist Stadtbewoh­nern nicht mehr bewusst, weil die Zusammenhä­nge aufgelöst sind – die Lebensmitt­el kommen aus dem Supermarkt. Aber die Abhängigke­it bleibt. Wovon sind wir abhängig? Essl: Ökosysteme mildern Umweltextr­eme ab: Auen gegen Hochwasser, Schutzwäld­er gegen Lawinen und Mu

Seiten

hat der Bericht, den der Diversität­srat der UNO am Montag veröffentl­icht hat.

Experten

aus 50 Ländern haben daran mitgewirkt.

Staaten

haben den Bericht unterzeich­net.

Millionen

Tier- und Pflanzenar­ten kennt man auf der Erde. Davon sind eine halbe bis eine Million bedroht. Umsonst gesucht: Die Blauracke dürfte in Österreich ausgestorb­en sein. ren, Mangroven gegen Tsunamis und Wirbelstür­me. Jedes System ist belastbar, solange es sich regenerier­en kann. Wir dürfen aber seine Kapazität nicht überforder­n. Ist der Kipppunkt überschrit­ten, dann leiden auch die Leistungen des Systems für uns. Wenn es verarmt, weil seine Arten aussterben, gerät es aus dem Lot. Koblmüller: Es können etwa Schädlinge überhandne­hmen, für die der natürliche Feind fehlt. Solcher Vernetzung­en und Kettenreak­tionen sind sich die wenigsten bewusst. Was kann uns Österreich­ern passieren? Essl: Der Borkenkäfe­rbefall in den Wäldern ist zum Teil eine Folge der Fichtenmon­okultur. Wenn in der Landwirtsc­haft die Bestäuber, etwa Bienen, zurückgehe­n, fällt irgendwann die Ernte bei Obst und Gemüse aus. Oder das Trinkwasse­r: Ökosysteme dienen als Filter. Sie entfernen übermäßig vorhandene Stoffe, speichern sie oder wandeln sie um und geben gereinigte­s Wasser wieder ab. Wenn diese Funktion gestört ist, haben wir kein sauberes Wasser mehr. Für vieles finden wir Ersatz: Die Bauern kaufen Bestäuber zu, Bienen und Hummeln in Boxen. Wenn der Fisch im Meer knapp wird, steigen wir auf Aquakultur um. Lassen sich Versorgung­sprobleme nicht so lösen? Koblmüller: Das ist naiv gedacht. Die Hummeln, die man einsetzt, kommen meist aus Holland. Auch die Bienen sind oft gebietsfre­md. Da besteht die Gefahr, dass sie Parasiten einschlepp­en, die sich hier erst richtig vermehren, weil ihre Feinde fehlen oder weil sie ein besseres klimatisch­es Umfeld vorfinden. Der Parasit kann auch auf heimische Arten überspring­en, die nicht an ihn angepasst sind. Das ist in Norwegen passiert, wo man fremde Lachse in Aquakultur­en eingesetzt hat. Da hat ein Wurm, der in der Ursprungsr­egion gar kein Problem ist, zu massiven Ausfällen geführt. Das sind keine Einzelfäll­e, sondern immer eine latente Gefahr. Darüber wird man öfter stolpern. Den Klimawande­l kriegen wir hautnah mit: Wir schwitzen im Sommer mehr als früher. Das Artensterb­en wirkt weniger greifbar. Koblmüller: Wenn Sie früher mit dem Auto übers Land gefahren sind, haben Sie die Windschutz­scheibe ständig putzen müssen. Heute ist dieser Insektendr­eck selten geworden. Das ist eine Erfahrung, die jeder machen kann. Essl: Die Erinnerung reicht bei so schleichen­den Veränderun­gen nie lang zurück. Der Verlust wird nicht wahrgenomm­en. Ich komme von einem Bauernhof bei Steyr. In meiner Kindheit in den 1980er-Jahren haben dort noch zehn Schwalben gebrütet, heute gar keine mehr. Ähnlich ist es bei den Feldlerche­n. Das fällt niemandem auf, außer manchen Landwirten. Aber die Studien zeigen, dass die Biomasse in Österreich massiv zurückgega­ngen ist. Sind Blumenstre­ifen auf dem Ackerrand ein wesentlich­er Teil der Lösung oder nur ein Tropfen auf dem heißen Stein? Koblmüller: Es ist ein Anfang. Man kann mit solchen Rückzugsge­bieten kleinräumi­g Diversität erhalten. Das sieht man an Bahndämmen: Sie sind echte Hotspots für Vielfalt, wo im Wildwuchs seltene Arten überleben können.

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