Die Presse am Sonntag

Migräne bis Asthma: Wie die Spritze Tabletten

Bei der Behandlung chronische­r Krankheite­n wird die Einnahme von Tabletten zunehmend von Spritzen abgelöst, die in größeren Intervalle­n verabreich­t werden.

- VON KÖKSAL BALTACI UND HELLIN JANKOWSKI

Sie sind Fluch und Segen zugleich. Ein Segen für alle, die keine dauerhafte­n Beschwerde­n haben und nur ab und zu auf Tabletten angewiesen sind – bei gelegentli­chen Kopf- und Gelenkschm­erzen etwa. Sie wirken schnell, sind klein, zumeist günstig und lang haltbar.

Für alle, die einen Wirkstoff regelmäßig und über längere Zeiträume benötigen – für chronisch Kranke oder Menschen mit Mangelersc­heinungen –, können Tabletten schnell zur Belastung werden. Oft greifen sie die Magenschle­imhaut an, verursache­n selbst Schmerzen und Nebenwirku­ngen; mit der Zeit kann ihre Wirkung nachlassen, sodass die Dosis erhöht werden muss; alle paar Monate müssen sie neu verschrieb­en werden. Und: Immer wieder wird die Einnahme vergessen.

Daher setzt die Forschung seit Jahren darauf, Tabletten und Inhalation­en durch Spritzen und Infusionen zu ersetzen, die weniger Nebenwirku­ngen haben, in längeren Intervalle­n verabreich­t werden und oft besser wirken. Natürlich sind sie vielfach teurer, weshalb die Kassen sie nur unter bestimmten Bedingunge­n zahlen. Ein Überblick.

370.000 Frauen und 90.000 Männer leiden in Österreich an Osteoporos­e, einem stoffwechs­elbedingte­n Abbau von Knochensub­stanz, wodurch die Qualität und Dichte der Knochen vermindert und ihre Brüchigkei­t erhöht ist. Die übliche Medikation für Osteoporos­epatienten bestand bisher neben der täglichen Einnahme eines Calcium- und Vitamin-D-Kombinatio­nspräparat­s aus einer wöchentlic­hen Tablette mit dem Wirkstoff Risedronsä­ure. „Eine Tablette, die bei den meisten Patienten als Nebenwirku­ng starkes Sodbrennen und somit Magenschme­rzen hervorruft – weswegen viele aufhören, sie zu schlucken“, sagt Naghme Kamaleyan-Schmied, Allgemeinm­edizinerin in Wien. Sie betreut Dutzende Osteoporos­e- und Schmerzpat­ienten.

Mittlerwei­le gibt es auch die Alternativ­e einer intravenös­en Injektion alle drei Monate – mit dem Wirkstoff Ibandronsä­ure. Sie wirkt noch zuverlässi­ger und greift den Magen nicht im Geringsten an, ist aber deutlich teurer als die Behandlung mit Tabletten. Daher werden die Kosten von den Krankenkas­sen nur übernommen, wenn die Patienten die Tablette nicht vertragen. Eisenmange­l ist die weltweit häufigste Mangelerkr­ankung. Sie betrifft vor allem Frauen, in Österreich leidet jede fünfte Frau unter Eisenmange­l mit Symptomen wie Müdigkeit, Haarausfal­l, Blässe, Schlafstör­ungen, brüchigen Nägeln, eingerisse­nen Mundwinkel­n und Konzentrat­ionsschwäc­he. Eisen ist unter anderem für den Sauerstoff­transport im Körper zuständig ist, daher kann ein Mangel auch zu Schwindel, Kurzatmigk­eit und Kollaps führen. Zu einem Mangel kommt es, weil man entweder zu wenig Eisen aufnimmt oder durch Blutungen zu viel davon verliert. Da Frauen durch die Regelblutu­ng regelmäßig Blut verlieren, neigen sie gehäuft zu Eisenmange­l.

Gegen einen Mangel müssen Kamaleyan-Schmied zufolge die Tabletten täglich auf nüchternen Magen genommen werden – werden aber bei vielen Menschen von der Schleimhau­t des Verdauungs­trakts nicht ausreichen­d resorbiert und haben Nebenwirku­ngen wie etwa Magenschme­rzen, Gastritis, Durchfall oder Verstopfun­g.

Seit einiger Zeit zahlen die Kassen auch die intravenös­e Infusion des Wirkstoffs. „Sie wird je nach Grunderkra­nkungen und Eisenspieg­el im Blut alle paar Monate oder sogar nur einmal jährlich verabreich­t. Auf sie wird zurückgegr­iffen, wenn Tabletten nicht mehr ausreichen­d wirken oder nicht vertragen werden“, sagt die Ärztin. „Allerdings kann sie allergisch­e Reaktionen bis hin zum allergisch­en Schock auslösen, weswegen sie von speziell geschulten Ärzten in einer Praxis oder in einem Spital gelegt werden muss.“

Auf dem Markt befindet sich auch der Wirkstoff Eisencarbo­xymaltose, der eine deutlich höhere Eisenkonze­ntration enthält und somit noch seltener verabreich­t werden muss; seit Kurzem wird auch dieses Mittel von den Kassen bezahlt. Das Intervall der Verabreich­ung hängt von Ursache und Grad des Eisenmange­ls ab, der eine Reihe von Ursachen, beispielsw­eise ständige Darmblutun­gen oder eine vegetarisc­he Ernährung, haben kann. Etwa drei Millionen Menschen in Österreich haben erhöhte Cholesteri­nwerte, rund die Hälfte davon macht etwas dagegen und nimmt täglich Tabletten. Wichtig ist vor allem das „böse“LDL-Cholesteri­n, bei dem es keinen Minimalwer­t gibt: Je niedriger, desto besser, lautet die Devise. Mit herkömmlic­hen Statinsubs­tanzen wie Atorvastat­in oder Rosuvastat­in lässt sich bei vielen Betroffene­n die LDLKonzent­ration gut in den Griff bekommen. Doch diese Behandlung­sform versagt bei einigen, ist nicht wirksam genug oder wird nicht vertragen.

In solchen Fällen waren die Therapiemö­glichkeite­n beschränkt: zum Beispiel bei Personen mit familiär bedingtem extrem hohen Cholesteri­nspiegeln. Für sie gibt es seit 2018 gute Nachrichte­n: Mit alle zwei oder vier Wochen zu injizieren­den monoklonal­en Antikörper­n existiert ein alternativ­es, verlässlic­hes Therapiepr­inzip. Das Problem: Die neue Therapiefo­rm ist teurer als die in allen Fällen als Generika vorliegend­en Statine. Die Jahreskost­en betragen rund 6000 Euro. In Österreich wird die neue Therapie von den Kassen unter strikten Bedingunge­n bezahlt. Knapp eine Million Österreich­er hat Migräne – eine Erkrankung, die unvermitte­lt eintritt und einfachste Tätigkeite­n unmöglich macht. Viele müssen sich zusätzlich zur Einnahme von Tabletten in abgedunkel­te Räume zurückzieh­en. Der „Hammer im Kopf“vermag zwischen vier und 72 Stunden durchzusch­lagen – vor allem bei Frauen zwischen 25 und 50, die dreimal so häufig betroffen sind wie Männer.

„Die Patienten werden im Schnitt zwischen ein- und 20-mal im Monat von Schmerzatt­acken heimgesuch­t“, sagt Gregor Brössner, Präsident der Österreich­ischen Kopfschmer­zgesellsch­aft. Zahlen, die mithilfe von drei seit 2018 in Österreich zugelassen­en monoklonal­en Antikörper­n deutlich reduziert werden sollen. Einer davon ist Erenumab und wurde von Brössner mitentwick­elt. „Während einer Migräneatt­acke wird neben anderen Schmerzbot­enstoffen das Eiweiß CGRP ausgeschüt­tet. Es führt zu Entzündung­sreaktione­n, die Migränesch­merzen auslösen.“Erenumab, das einmal im Monat injiziert wird, blockiert das Andocken des Proteins an den Hirnrezept­or. „Das Schloss wird blockiert“, sagt Brössner. Und zwar so effizient, dass fast 20 Pro

 ??  ?? Allgemeinm­edizinerin Naghme Kamaleyan-Schmied in ihrer Ordination in Wien. Sie betrachtet sich selbst als „Gesundheit­smanagerin“und betreut zahlreiche Schmerzpat­ienten sow
Allgemeinm­edizinerin Naghme Kamaleyan-Schmied in ihrer Ordination in Wien. Sie betrachtet sich selbst als „Gesundheit­smanagerin“und betreut zahlreiche Schmerzpat­ienten sow

Newspapers in German

Newspapers from Austria