Ein Europa nach Wahl
Kurze Verdrängung von Ibiza-Video, Kurz-Misstrauensantrag und »Staatskrise«: Heute wird die Zukunft der Europäischen Union gewählt. Es geht einfach um die Frage: Mehr oder weniger davon?
Unsere Kollegen von Orf.at betreiben nicht nur eine der wichtigsten Informationsquellen des Landes, manchmal formulieren sie wunderbare lakonische Titel und Texte. „Parteien feiern Wahlkampfende“hieß es da am Samstag über die Abschlusskundgebungen. Eine Feier, dass es endlich vorbei ist? Was für ein Glück, dieser schmutzige Wahlkampf ist vorbei! Aber war er das wirklich?
Mitnichten. Zumindest nicht bis zur Veröffentlichung des Ibiza-Videos vor einer Woche, dessen Wucht die FPÖ aus der Regierung warf und dessen expliziter Inhalt für eine Neuwahl im September sorgte. Bis zu diesem Zeitpunkt durften wir einen einigermaßen sachpolitisch orientierten EU-Wahlkampf erleben, in dem die Spitzenkandidaten auf schmutzige gegenseitige Untergriffe verzichteten und sich ziemlich gut schlugen. Abgesehen vom verständlichen Selbstmitleid des Johannes Voggenhuber und von Norbert-Hofer-Wahlkampf-Kreide-Substanzen, die Herbert Vilimsky genommen haben muss, sind da lauter Kandidaten angetreten, die einigermaßen gute Figur für Österreich
machen werden. Aber dann wurde es peinlich: Die Veröffentlichung des Vintage-Videos eine Woche vor der Wahl war wohl kein Zufall, betraf es doch mit Heinz-Christian Strache und seinem politischen Schani einen der prominentesten Neo-Rechtspopulisten Europas. Wie wir nun wissen, den dumm-dreistesten. Ob das Video und das darauffolgende Beben das Ergebnis der EU-Wahl massiv beeinflusst, werden wir sehen. Als langjähriger Politikjournalist weiß ich nur: Wir lagen schon häufiger falsch. Sollte das verrauchte Kammerstück mehr Wähler zu den Urnen bringen, ist das ein weiterer Grund, warum die Veröffentlichung gut und richtig war.
Es geht bei dieser Wahl nämlich ein Stück weit um eine Grundsatzentscheidung für Europa, die gehört werden muss. Sehr grob vereinfacht: Wollen die Bürger Europas eine Verdichtung des Unionsgedankens, also Schritte in Richtung der Vereinigten Staaten von Europa – deren Realisierung selbst bei einer breiten Mehrheit noch Jahrzehnte benötigen würde? Oder geht es in die andere Richtung? Soll wieder mehr Emanzipation von Brüssel und damit wieder mehr Nationalstaatlichkeit zurückkehren? Oder besser: Betont und gelebt werden? So unnationalstaatlich sind wir derzeit gar nicht organisiert. Ich frage nur: Gibt es wie auf dem Papier vereinbart eine echte gemeinsame Sicherheitsund Außenpolitik? Natürlich nicht.
Und wie bei allen großen Themen wird wohl der Mittelweg zu finden und beschreiten sein: Die Union sollte weiterhin ein integrativer Körper sein. Aber eine Reform mit klareren Spielregeln wäre besser. Wie war das noch einmal mit den Maastricht-Budgetdefizit-Regeln und den Abweichlern? Wo war der Unionsgedanke in der Flüchtlingskrise, als Asylbewerber nicht einmal im Ansatz gleichmäßig verteilt werden konnten? Bevor derlei strukturelle Probleme nicht gelöst sind, brauchen wir über einen Bundesstaat Europa nicht reden.
Fest steht: Ohne höhere Wahlbeteiligung wird das Projekt Europa eine Elitendiskussion bleiben – beteiligen wir uns daher heute mittels Stimmen. Und dann können wir wieder videoschauen.