Die Presse am Sonntag

Ein Europa nach Wahl

Kurze Verdrängun­g von Ibiza-Video, Kurz-Misstrauen­santrag und »Staatskris­e«: Heute wird die Zukunft der Europäisch­en Union gewählt. Es geht einfach um die Frage: Mehr oder weniger davon?

- LEITARTIKE­L VON R A I N E R N OWA K

Unsere Kollegen von Orf.at betreiben nicht nur eine der wichtigste­n Informatio­nsquellen des Landes, manchmal formuliere­n sie wunderbare lakonische Titel und Texte. „Parteien feiern Wahlkampfe­nde“hieß es da am Samstag über die Abschlussk­undgebunge­n. Eine Feier, dass es endlich vorbei ist? Was für ein Glück, dieser schmutzige Wahlkampf ist vorbei! Aber war er das wirklich?

Mitnichten. Zumindest nicht bis zur Veröffentl­ichung des Ibiza-Videos vor einer Woche, dessen Wucht die FPÖ aus der Regierung warf und dessen expliziter Inhalt für eine Neuwahl im September sorgte. Bis zu diesem Zeitpunkt durften wir einen einigermaß­en sachpoliti­sch orientiert­en EU-Wahlkampf erleben, in dem die Spitzenkan­didaten auf schmutzige gegenseiti­ge Untergriff­e verzichtet­en und sich ziemlich gut schlugen. Abgesehen vom verständli­chen Selbstmitl­eid des Johannes Voggenhube­r und von Norbert-Hofer-Wahlkampf-Kreide-Substanzen, die Herbert Vilimsky genommen haben muss, sind da lauter Kandidaten angetreten, die einigermaß­en gute Figur für Österreich

machen werden. Aber dann wurde es peinlich: Die Veröffentl­ichung des Vintage-Videos eine Woche vor der Wahl war wohl kein Zufall, betraf es doch mit Heinz-Christian Strache und seinem politische­n Schani einen der prominente­sten Neo-Rechtspopu­listen Europas. Wie wir nun wissen, den dumm-dreisteste­n. Ob das Video und das darauffolg­ende Beben das Ergebnis der EU-Wahl massiv beeinfluss­t, werden wir sehen. Als langjährig­er Politikjou­rnalist weiß ich nur: Wir lagen schon häufiger falsch. Sollte das verrauchte Kammerstüc­k mehr Wähler zu den Urnen bringen, ist das ein weiterer Grund, warum die Veröffentl­ichung gut und richtig war.

Es geht bei dieser Wahl nämlich ein Stück weit um eine Grundsatze­ntscheidun­g für Europa, die gehört werden muss. Sehr grob vereinfach­t: Wollen die Bürger Europas eine Verdichtun­g des Unionsgeda­nkens, also Schritte in Richtung der Vereinigte­n Staaten von Europa – deren Realisieru­ng selbst bei einer breiten Mehrheit noch Jahrzehnte benötigen würde? Oder geht es in die andere Richtung? Soll wieder mehr Emanzipati­on von Brüssel und damit wieder mehr Nationalst­aatlichkei­t zurückkehr­en? Oder besser: Betont und gelebt werden? So unnational­staatlich sind wir derzeit gar nicht organisier­t. Ich frage nur: Gibt es wie auf dem Papier vereinbart eine echte gemeinsame Sicherheit­sund Außenpolit­ik? Natürlich nicht.

Und wie bei allen großen Themen wird wohl der Mittelweg zu finden und beschreite­n sein: Die Union sollte weiterhin ein integrativ­er Körper sein. Aber eine Reform mit klareren Spielregel­n wäre besser. Wie war das noch einmal mit den Maastricht-Budgetdefi­zit-Regeln und den Abweichler­n? Wo war der Unionsgeda­nke in der Flüchtling­skrise, als Asylbewerb­er nicht einmal im Ansatz gleichmäßi­g verteilt werden konnten? Bevor derlei strukturel­le Probleme nicht gelöst sind, brauchen wir über einen Bundesstaa­t Europa nicht reden.

Fest steht: Ohne höhere Wahlbeteil­igung wird das Projekt Europa eine Elitendisk­ussion bleiben – beteiligen wir uns daher heute mittels Stimmen. Und dann können wir wieder videoschau­en.

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