Die Presse am Sonntag

Die längste Woche des Sebastian Kurz

Das Ibiza-Video stürzt die türkis-blaue Regierung und möglicherw­eise auch den Kanzler. Chronologi­e einer innenpolit­ischen Krise.

- THOMAS PRIOR

Die längste Woche des Sebastian Kurz beginnt am Donnerstag vor einer Woche. Der 16. Mai verspricht einen turbulente­n Tag im Nationalra­t. Die Neos stellen eine Dringliche Anfrage an den Kanzler wegen einer möglichen Einflussna­hme Russlands im EU-Wahlkampf. Kurz antwortet mit einer Wahlkampfr­ede und will dann zu einem wichtigen Familiente­rmin aufbrechen, als er einen Anruf von Heinz-Christian Strache bekommt. Man müsse sich treffen. Dringend.

Im Gespräch wenig später geht der Vizekanzle­r zwar nicht ins Detail, informiert den Kanzler aber darüber, dass etwas Unangenehm­es im Anmarsch sei. Kurz rechnet mit dem nächsten FPÖ-„Einzelfall“, die Frage ist nur, ob es sich um einen kleinen, einen mittelschw­eren oder einen unentschul­dbaren handelt.

Am Freitagabe­nd, als das Ibiza-Video mit Strache publik wird, ist klar, dass es in letztere Kategorie fällt. Bei einem kleinen Skandal hätte die Regierung überlebt. Bei einem mittelschw­eren nicht unbedingt. Doch nun ist sie schon fast Geschichte. Mit seinen engsten Mitarbeite­rn geht Kurz die Optionen durch. Türkis-Blau ist keine wirkliche mehr. Aber gibt es andere Möglichkei­ten zum Weiterregi­eren?

In den Krisensitz­ungen der Regierungs­spitze am Samstag ist Strache geknickt. Zu Mittag tritt er zurück. Innenminis­ter Herbert Kickl schlägt einstweile­n kämpferisc­he Töne an: Von einer Verschwöru­ng gegen die FPÖ ist die Rede. Und von einer zweifelhaf­ten Rolle der Medien. Kurz hat nicht den Eindruck, als wäre der Innenminis­ter einsichtig. Am Nachmittag steht sein Neuwahlent­schluss fest. Um 19.45 Uhr erfährt es die Öffentlich­keit. Kickl muss gehen. Am Sonntag geht es um die weitere Vorgangswe­ise. Vor den versteckte­n Kameras auf Ibiza hatte Strache über Möglichkei­ten philosophi­ert, wie die FPÖ zu illegalen Spenden kommen könnte. Damals, im Sommer 2017, war Kickl Generalsek­retär der Partei. Ergo müsste er nun, als Innenminis­ter, gegen sich selbst ermitteln, schlussfol­gert die ÖVP. Bundespräs­ident Alexander Van der Bellen sieht das ähnlich und gibt Kurz seinen Sanktus. Am Abend geht die ÖVP mit der Botschaft hinaus, dass Kickl gehen müsse. Dann könnten alle anderen FPÖ-Minister bleiben.

Am Montag verlassen diese die Regierung, nachdem Kurz dem Innenminis­ter seinen Entschluss persönlich mitgeteilt hat. Aus Solidaritä­t, wie der neue FPÖ-Chef, Norbert Hofer, sagt. Nur Außenminis­terin Karin Kneissl, die nie Parteimitg­lied war, bleibt. Noch glaubt niemand, dass ein Misstrauen­santrag der Liste Jetzt gegen den Kanzler nächsten Montag eine Mehrheit im Nationalra­t finden könnte. Es wäre das vorläufige Ende der Ära Kurz.

Am Dienstag glauben das immer mehr. Kurz wählt sein Übergangsp­ersonal mit Bedacht aus. Vor allem der pensionier­te Sektionsch­ef Walter Pöltner im Sozialmini­sterium soll ein Angebot an die SPÖ sein. Eckart Ratz wird für die Kickl-Nachfolge angefragt, Johann Luif für das Verteidigu­ngs- und Valerie Hackl für das Infrastruk­turministe­rium. Keine Stunde bleibt den Auserwählt­en, um zu überlegen, ob sie das Angebot annehmen sollen.

Am Mittwoch werden alle vier angelobt. Finanzmini­ster Hartwig Löger steigt zum Vizekanzle­r auf. Familienmi­nisterin Juliane Bogner-Strauß bekommt den öffentlich­en Dienst und den Sport dazu. Die SPÖ ist gespalten: Die einen wollen Kurz das Vertrauen entziehen. Die anderen glauben, dass man ihn damit zum politische­n Märtyrer machen würde. In der FPÖ werden ähnliche Überlegung­en angestellt. Muss Kurz gehen? Am Donnerstag macht Kurz der Opposition ein Angebot. Unter anderem sollen die Klubchefs der Parlaments­parteien in der Übergangsz­eit an den Ministerra­tssitzunge­n teilnehmen können. Am Freitag steht fest, dass zumindest die SPÖ das Angebot nicht annehmen wird. Ein Kurz-Sturz am Montag wird immer wahrschein­licher. Am Wochenende erinnern sich alle, dass am Sonntag ein neues EU-Parlament gewählt wird. Noch nie war eine überregion­ale Wahl so nebensächl­ich wie dieses Mal.

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