Brüsseler Spitzenkandidaten
Die Europawahlen sollten auch bestimmen, wer neuer Präsident der EU-Kommission wird. Doch keiner der Spitzenkandidaten der beiden europäischen Großparteien dürfte die Anforderungen der Staats- und Regierungschefs zufriedenstellen.
Für einen Mann, der stets betont, kein politisches Amt anzustreben, ist Michel Barnier viel auf Achse. Und er trifft bemerkenswert viele Leute, die in den nächsten Tagen über die höchsten politischen Ämter der EU entscheiden werden. In den vergangenen vier Wochen hatte der frühere französische Außenminister, EU-Kommissar und gegenwärtige Brexit-Verhandler Termine bei den Staats- und Regierungschefs von Dänemark, Malta, Kroatien, Zypern und Griechenland. Dazu kamen politisch hochrangig besetzte Veranstaltungen in München und Berlin, samt Treffen mit CSU-Spitzen sowie dem Wirtschaftsminister und Konfidenten von Kanzlerin Angela Merkel, Peter Altmaier. „Ich habe heute Michel Barnier getroffen, einen echten Freund Griechenlands“, twitterte der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras.
Barniers Kurs steigt seit Wochen auf der Brüsseler Gerüchtebörse, wo die Chancen möglicher Kandidaten für die Nachfolge von Jean-Claude Juncker als Kommissionspräsident gehandelt werden. Seine Handhabung der BrexitVerhandlungen wird allseits wegen ihrer Professionalität und Integrität hoch geschätzt. Als Franzose wäre er, auch wenn er den christdemokratischen Re-´ publicains angehört, für Präsident Emmanuel Macron akzeptabel: einen Landsmann an der Spitze der Kommission, das gab es seit einem Vierteljahrhundert und Jacques Delors nicht mehr. Und vor allem: er böte der Europäischen Volkspartei einen verhältnismäßig eleganten Weg, um Manfred Weber, ihren Spitzenkandidaten für die Europawahl, zu ersetzen.
Denn dass Weber Kommissionsvorsitzender wird, wäre mittlerweile eine enorme Überraschung. Erstens spricht sein dünner Lebenslauf ohne jegliche Regierungserfahrung gegen den derzeitigen Fraktionschef der EVP. Die zu erwartenden herben Verluste der EVP in großen Ländern wie Frankreich, Spanien und Italien sowie vor allem in Webers Heimat mindern zweitens seine politische Statur. Drittens ist der wichtigste Fürsprecher Webers im Europäischen Rat geschwächt: Selbst wenn Bundeskanzler Sebastian Kurz am Montag den Misstrauensantrag im Nationalrat überlebt, hat er angesichts seiner Regierungskrise kein Pouvoir, sich für Weber ins Zeug zu legen.
Dennoch wird der Bayer alles ihm Mögliche versuchen, sein Ziel, die Chefetage im 13. Stock des Berlaymont-Gebäudes der Kommission, zu erreichen. Nach dem Schließen der letzten Wahllokale heute, Sonntag, um 23 Uhr (da endet der Urnengang in Italien) wird in dieser Frage ein Sprint zwischen zwei konkurrierenden Lagern losbrechen. Weber wird im Verlauf des Montags darum ringen, eine tragbare Mehrheit mit den anderen Parteien zu schmieden. Denn nur dann kann er tags darauf, wenn sich die Staats- und Regierungschefs zum informellen Abendessen treffen, einen Anspruch darauf erheben, erster Anwärter für das Präsidentenamt zu sein. Zeit für eine Frau. Und wenn ihm das misslingt? Weder bei den Sozialdemokraten noch den Liberalen und erst recht nicht bei den Grünen hat Weber viel Sympathie. Barnier mögen sie alle. Doch soll die Kommission mit einem fitten, aber eben doch 67-Jährigen in die Zukunft schreiten? Und wäre es nicht eigentlich höchste Zeit, dass nach 62 Jahren Männerherrschaft eine Frau die Kommission führt?
Das findet nicht nur Margrethe Vestager, die dänische Wettbewerbskommissarin. Donald Tusk, Präsident des Europäischen Rates, wird die EUChefs am Dienstagabend dazu auffordern, sich zu entscheiden, ob entweder sein Amt oder jenes von Juncker mit einer Frau besetzt wird. Die Liberale Vestager hat viele Fans, allen voran Präsident Macron. Das Problem ist nur: Ihre dänische Partei ist weit davon entfernt, an der nächsten Regierung beteiligt zu sein. In zwei Wochen finden Parlamentswahlen statt. Weder die regierenden Rechtsliberalen noch die favorisierten Sozialdemokraten scheinen geneigt, Vestager zu stützen.
Noch ein anderer Name fällt immer öfter: jener der bulgarischen Vizepräsidentin der Weltbank, Kristalina Georgiewa. Sie würde kraft ihrer Herkunft aus Osteuropa ein zusätzliches Erfordernis erfüllen. Als EU-Kommissarin machte sie einen exzellenten Eindruck, ehe sie nach einem Konflikt mit Martin Selmayr, dem heutigen Generalsekretär der Kommission und damaligem Kabinettschef Junckers, zurück nach Washington zur Weltbank ging.
Trostpreise. Eines ist jedenfalls so gut wie sicher: Webers Herausforderer, der niederländische Spitzenkandidat der Sozialdemokraten, Frans Timmermans, wird es auch nicht. Denn ohne EVP wird es keine Mehrheit im Parlament geben. Doch dass die Timmermans unterstützt, nachdem Weber bei der Bildung einer Koalition scheitert, zu der die Sozialdemokraten beitragen müssten – das wird es nicht spielen.
Und so könnte es sein, dass keiner der beiden Spitzenkandidaten zum Zug kommt. Immerhin stehen Trostpreise bereit: der polyglotte frühere Außenminister Timmermans könnte Federica Mogherini folgen und hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik werden. Weber winkt der deutsche Kommissarsposten – so er ihn will.
Webers stärkster Befürworter, Sebastian Kurz, ist nach der Ibiza-Affäre geschwächt. Die EVP wird kaum für Frans Timmermans stimmen. Doch sie ist für eine Mehrheit nötig.