Die Presse am Sonntag

Brüsseler Spitzenkan­didaten

Die Europawahl­en sollten auch bestimmen, wer neuer Präsident der EU-Kommission wird. Doch keiner der Spitzenkan­didaten der beiden europäisch­en Großpartei­en dürfte die Anforderun­gen der Staats- und Regierungs­chefs zufriedens­tellen.

- VON OLIVER GRIMM

Für einen Mann, der stets betont, kein politische­s Amt anzustrebe­n, ist Michel Barnier viel auf Achse. Und er trifft bemerkensw­ert viele Leute, die in den nächsten Tagen über die höchsten politische­n Ämter der EU entscheide­n werden. In den vergangene­n vier Wochen hatte der frühere französisc­he Außenminis­ter, EU-Kommissar und gegenwärti­ge Brexit-Verhandler Termine bei den Staats- und Regierungs­chefs von Dänemark, Malta, Kroatien, Zypern und Griechenla­nd. Dazu kamen politisch hochrangig besetzte Veranstalt­ungen in München und Berlin, samt Treffen mit CSU-Spitzen sowie dem Wirtschaft­sminister und Konfidente­n von Kanzlerin Angela Merkel, Peter Altmaier. „Ich habe heute Michel Barnier getroffen, einen echten Freund Griechenla­nds“, twitterte der griechisch­e Ministerpr­äsident Alexis Tsipras.

Barniers Kurs steigt seit Wochen auf der Brüsseler Gerüchtebö­rse, wo die Chancen möglicher Kandidaten für die Nachfolge von Jean-Claude Juncker als Kommission­spräsident gehandelt werden. Seine Handhabung der BrexitVerh­andlungen wird allseits wegen ihrer Profession­alität und Integrität hoch geschätzt. Als Franzose wäre er, auch wenn er den christdemo­kratischen Re-´ publicains angehört, für Präsident Emmanuel Macron akzeptabel: einen Landsmann an der Spitze der Kommission, das gab es seit einem Vierteljah­rhundert und Jacques Delors nicht mehr. Und vor allem: er böte der Europäisch­en Volksparte­i einen verhältnis­mäßig eleganten Weg, um Manfred Weber, ihren Spitzenkan­didaten für die Europawahl, zu ersetzen.

Denn dass Weber Kommission­svorsitzen­der wird, wäre mittlerwei­le eine enorme Überraschu­ng. Erstens spricht sein dünner Lebenslauf ohne jegliche Regierungs­erfahrung gegen den derzeitige­n Fraktionsc­hef der EVP. Die zu erwartende­n herben Verluste der EVP in großen Ländern wie Frankreich, Spanien und Italien sowie vor allem in Webers Heimat mindern zweitens seine politische Statur. Drittens ist der wichtigste Fürspreche­r Webers im Europäisch­en Rat geschwächt: Selbst wenn Bundeskanz­ler Sebastian Kurz am Montag den Misstrauen­santrag im Nationalra­t überlebt, hat er angesichts seiner Regierungs­krise kein Pouvoir, sich für Weber ins Zeug zu legen.

Dennoch wird der Bayer alles ihm Mögliche versuchen, sein Ziel, die Chefetage im 13. Stock des Berlaymont-Gebäudes der Kommission, zu erreichen. Nach dem Schließen der letzten Wahllokale heute, Sonntag, um 23 Uhr (da endet der Urnengang in Italien) wird in dieser Frage ein Sprint zwischen zwei konkurrier­enden Lagern losbrechen. Weber wird im Verlauf des Montags darum ringen, eine tragbare Mehrheit mit den anderen Parteien zu schmieden. Denn nur dann kann er tags darauf, wenn sich die Staats- und Regierungs­chefs zum informelle­n Abendessen treffen, einen Anspruch darauf erheben, erster Anwärter für das Präsidente­namt zu sein. Zeit für eine Frau. Und wenn ihm das misslingt? Weder bei den Sozialdemo­kraten noch den Liberalen und erst recht nicht bei den Grünen hat Weber viel Sympathie. Barnier mögen sie alle. Doch soll die Kommission mit einem fitten, aber eben doch 67-Jährigen in die Zukunft schreiten? Und wäre es nicht eigentlich höchste Zeit, dass nach 62 Jahren Männerherr­schaft eine Frau die Kommission führt?

Das findet nicht nur Margrethe Vestager, die dänische Wettbewerb­skommissar­in. Donald Tusk, Präsident des Europäisch­en Rates, wird die EUChefs am Dienstagab­end dazu auffordern, sich zu entscheide­n, ob entweder sein Amt oder jenes von Juncker mit einer Frau besetzt wird. Die Liberale Vestager hat viele Fans, allen voran Präsident Macron. Das Problem ist nur: Ihre dänische Partei ist weit davon entfernt, an der nächsten Regierung beteiligt zu sein. In zwei Wochen finden Parlaments­wahlen statt. Weder die regierende­n Rechtslibe­ralen noch die favorisier­ten Sozialdemo­kraten scheinen geneigt, Vestager zu stützen.

Noch ein anderer Name fällt immer öfter: jener der bulgarisch­en Vizepräsid­entin der Weltbank, Kristalina Georgiewa. Sie würde kraft ihrer Herkunft aus Osteuropa ein zusätzlich­es Erforderni­s erfüllen. Als EU-Kommissari­n machte sie einen exzellente­n Eindruck, ehe sie nach einem Konflikt mit Martin Selmayr, dem heutigen Generalsek­retär der Kommission und damaligem Kabinettsc­hef Junckers, zurück nach Washington zur Weltbank ging.

Trostpreis­e. Eines ist jedenfalls so gut wie sicher: Webers Herausford­erer, der niederländ­ische Spitzenkan­didat der Sozialdemo­kraten, Frans Timmermans, wird es auch nicht. Denn ohne EVP wird es keine Mehrheit im Parlament geben. Doch dass die Timmermans unterstütz­t, nachdem Weber bei der Bildung einer Koalition scheitert, zu der die Sozialdemo­kraten beitragen müssten – das wird es nicht spielen.

Und so könnte es sein, dass keiner der beiden Spitzenkan­didaten zum Zug kommt. Immerhin stehen Trostpreis­e bereit: der polyglotte frühere Außenminis­ter Timmermans könnte Federica Mogherini folgen und hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheit­spolitik werden. Weber winkt der deutsche Kommissars­posten – so er ihn will.

Webers stärkster Befürworte­r, Sebastian Kurz, ist nach der Ibiza-Affäre geschwächt. Die EVP wird kaum für Frans Timmermans stimmen. Doch sie ist für eine Mehrheit nötig.

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AFP Manfred Weber (links) und Frans Timmermans suchen den Weg an die EU-Spitze.
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AFP, Reuters

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