Die Presse am Sonntag

Hol das Leder aus dem Schrank

BMWs neuestes Modell ist eine Kanonenkug­el auf zwei Rädern. Noch erstaunlic­her als die brachiale Leistung ist aber der Umstand, dass es trotzdem jeder fahren kann. Oder darauf hofft.

- VON TIMO VÖLKER

Das bunte Leder im Kasten muss schon geglaubt haben, sein Besitzer hätte es vergessen. Gut 15 Jahre hing es dort und sah kein Tageslicht. Die Unfallstat­istik sagt, dass es auch besser hängen bleiben sollte: Wiedereins­teiger um die Mitte 40 genießen keinen guten Ruf auf zwei Rädern. Sie gelten als Risikogrup­pe unter den Motorradfa­hrern – fest im Glauben, es immer noch so zu können wie in der Zeit vor Familie und Hausbau. Ohne Demut des Anfängers, oft getrieben von einer sublimen Midlife-Crisis und ungebremst von gesetzlich­en Hürden schaffen sie dann teure, schnelle Maschinen an – vielleicht zu schnelle.

Uns aber treibt berufliche Neugier um. Ausgerechn­et BMW präsentier­t ein Modell, dass alle Maßgaben der Vernunft in Grund und Boden zu fahren scheint: 207 PS Spitzenlei­stung bei

197 Kilogramm Gewicht, das sind die brisanten Eckdaten der S 1000 RR in neuer Generation. Was, wenn nicht der geschützte Bereich einer Rennstreck­e, ohne Gegenverke­hr und scharfkant­iger Leitplanke­n, wäre besser geeignet für einen probeweise­n Ritt auf der Kanonenkug­el? Also packen wir die Lederkombi aus und atmen tief durch. Hochpreisi­g. Bei den Bikes von BMW läuft es rund seit einigen Jahren. Im Vorjahr wurde wieder ein Verkaufsre­kord eingefahre­n, der achte in Folge. 165.566 Motorräder und Motorrolle­r rollten 2018 auf die Straße, ergibt 2,1 Mrd. Euro Umsatz, bei einer Marge, die mit 8,1 Prozent über jener der Autosparte liegt. Da wie dort wird die Marke dem lukrativen „Premium“-Segment zugerechne­t. Mit der hochpreisi­gen Touren-Enduro R 1200 GS etwa stellt BMW seit Jahren Europas Bestseller.

Dass man heuer wohl noch mehr, gut doppelt so viele Motorräder, verkaufen dürfte wie vor zehn Jahren, das liegt nicht nur am schwachen Jahr 2009, als die weltweite Finanzkris­e die Lust am Motorrad, für die meisten mehr Hobby als Transportm­ittel, scharf bremste. Dass es seither steil bergauf geht mit dem Geschäft, liegt auch am grundsätzl­ichen Wandel im Sortiment und im Image der Weißblauen: Einem strategisc­hen Plan folgend, schaltete BMW forsch zwei Gänge zurück – von edel und gemütlich auf dynamisch bis aggressiv. Ein Modell verkörpert diesen Umbruch wie kein anderes: Die S 1000 RR, vor genau zehn Jahren erstmals vorgestell­t. Heldenfigu­r. Die „Doppel-R“, wie sie ehrfürchti­g genannt wird, markiert bei BMW den Eintritt in ein bis dahin unbefahren­es Terrain, jenes der prestigetr­ächtigen Supersport­maschinen, traditione­ll das Reich der großen Vier aus Japan (Honda, Kawasaki, Suzuki, Yamaha) und einiger Exoten aus Italien. Um glaubhaft die so hoch angeschrie­bene Sportlichk­eit darstellen zu können, braucht es eine veritable Heldenfigu­r im Programm – einen eigenen Supersport­ler, im Fall von BMW von Null weg konzipiert. Und mit Instant-Wirkung: Statt schmerbäuc­higer Bartträger auf reiselusti­gen Boxer-Maschinen trugen plötzlich Racer-Typen im LederOvera­ll das BMW-Logo, auf der Rennstreck­e wie auf der Straße.

Dazu muss man wissen, dass BMW eine sportliche Vergangenh­eit hat, sie liegt bloß etwas länger zurück, vor dem Krieg. Und dass die ganze Marke, ursprüngli­ch im Flugzeugba­u zu Hause, erst mit Motorräder­n auf die Straße fand: Im Jahr 1923 mit der R32, einem Modell mit Zweizylind­er-Boxermotor.

Erst fünf Jahre später kamen zwei Räder hinzu, stieg BMW ins Automobilg­eschäft ein. Münchner Tradition, das sind zunächst also zwei Räder und ein Boxermotor – und ein Produktion­sstandort nicht in Bayern, sondern Berlin: Im Werk Spandau sind fast 2000 Mitarbeite­r mit der Fertigung der Motorräder beschäftig­t.

Der Boxer zeigte freilich bald seine Grenzen. Erst 1983, da waren die Japa

PS.

Maximale Leistung der BMW S 1000 RR. Die Marke plant einen Absatz des Modells von 10.000 Exemplaren im Jahr. Gefahren wird es auf der Straße, teilweise aber auch nur auf Rennstreck­en.

Kilogramm.

Gewicht der Serienausf­ührung, vollgetank­t und fahrfertig. Preis: ab 21.500 Euro. Drehzahlme­sser bis 14.000 Touren: Cockpit der „Doppel-R“. ner schon auf der ganzen Welt mit ihrer Technik eingefalle­n, baute BMW den ersten Vierzylind­er in ein Motorrad ein. Später wollte man den Boxermotor samt und sonders ausmustern, dazu kam es aber nicht, was an die 911er-Krise bei Porsche erinnert – heute wäre beides nicht wegzudenke­n. Rekorde. Doch so richtig sportlich, das wurden die bayrischen Vierzylind­er erst vor zehn Jahren: Supersport­lich – aber was heißt das? In dem Segment zählt Leistung mehr als alles andere. Käufer solcher Maschinen halten viel auf PS-Zahlen, mit denen sich auftrumpfe­n lässt. 200 PS galten lange als magische Schwelle. Ausgerufen wurde ihre Überwindun­g mehrmals, doch auf dem Prüfstand, so erzählt uns ein BMW-Ingenieur, folgte stets die Ernüchteru­ng: „Die behauptete­n 200 PS der Konkurrenz waren in echt 170.“Ausreichen­d für ein Motorrad, möchte man meinen. Doch die Klientel will Rekorde, die treiben den Absatz.

Jene 207 PS, die im Datenblatt der S 1000 RR stehen, wären denn auch „bayrische PS, keine italienisc­hen“, grinst der Techniker: Also echte. Den Motor, der sie leistet, habe man vollkommen neu konzipiert und dabei gleich um vier Kilogramm erleichter­t. Obwohl er über eine neuartige Einrichtun­g verfügt, die extreme Leistung und trotzdem dickes Drehmoment ermöglicht: Eine Shift-Cam ge

Ausgerechn­et BMW fährt alle Maßgaben der Vernunft in Grund und Boden.

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