Die Presse am Sonntag

Leben mitten im Wattenmeer

Gudrun und Hermann Matthiesen waren zwei Jahrzehnte lang Pächter der Hallig Süderoog – einer Art Insel im Wattenmeer. Es gab nur sie und ihre Tiere. Einsam waren sie jedoch nicht.

- VON DUYGU ÖZKAN

Die Hunde fanden eine ganz andere Welt vor, und die Dinge, die sie nicht kannten, machten sie nervös. Jogger. Kindergrup­pen. Menschen, die telefonier­ten. Überhaupt, klingelnde Handys. Autos und ihr ganzer Krach und Auspuff. All die Stimmen und Geräusche kannten die Hunde nicht, erzählt Gudrun Matthiesen. Besser wurde es erst, als eines der beiden Tiere etwas taub wurde. Dann bellten sie nicht mehr unentwegt.

Dabei leben Gudrun und Hermann Matthiesen nicht einmal im lärmgeplag­ten Großstadtd­schungel, sondern auf der Insel Pellworm hoch oben im Wattenmeer, 650 Haushalte, eine von Salzwiesen und Sandbänken geprägte Landschaft, allenfalls aufgelocke­rt von dünnen, grünen Landstrich­en. Aber die Hunde der Matthiesen­s hatten es bis zum Umzug nach Pellworm noch beschaulic­her: Sie lebten auf der Hallig Süderoog südwestlic­h von Pellworm, wo sie neben ihren Besitzern und einer Reihe anderer Tiere die einzigen Bewohner waren. Krach machte hier nur der Sturm und vielleicht der Fleischwol­f von Hermann Matthiesen, wenn Schlachtze­it war. 23 Jahre lang lebte das Paar auf der Hallig, also auf einer Art Insel an der Nordseeküs­te Schleswig-Holsteins, die bei Sturm überflutet werden kann. Sie bewirtscha­fteten den historisch­en Hof, freilich das einzige Haus auf der 62 Hektar großen Hallig, sie befestigte­n mit großen Steinen die ausgefrans­ten Sandränder, sie kümmerten sich um ihre Schafe, Lämmer, Kühe, Gänse, Hühner, Kaninchen, Pferde und um das, was sonst noch so kreuchte und fleuchte.

„Eigentlich wollten wir bis ans Lebensende dort bleiben“, blickt Hermann Matthiesen zurück. Der Abschied sei ein trauriger gewesen. Doch das Leben auf der Hallig war auch ihr Job: Als Pächter des Hauses war Matthiesen für den Schutz der Insel zuständig und somit beim Land Schleswig-Holstein angestellt. Mit seiner Pension endete auch der Aufenthalt. Wenn er heute mit dem Schiff bei der Hallig vorbeifahr­e, sehe er von Weitem die Wipfeln der 500 Bäu

me, die er und seine Frau eigenhändi­g gepflanzt haben. Denn eher karg war die Insel, als das Paar hinüberzog, zumal der Boden kein Süßwasser speichern kann. „Die Hallig war ziemlich kaputt, tiefe Löcher waren ausgespült. Wir haben die Steinwälle höher gemacht. Das hat sich bewährt“, sagt Matthiesen zufrieden.

Auf der Hallig mit den tiefen Löchern und der salzigen Luft führte das nordfriesi­sche Paar bisweilen ein Einsiedler­leben. Im Winter sahen sie monatelang keinen einzigen Menschen, wenn die Winde zu stark und das Wattenmeer eingefrore­n war. Dann schaffte es nicht einmal der Postbote Knud Knudsen, der in regelmäßig­en Abständen – aus Überzeugun­g barfuß! – die Hallig aufsuchte, um Post und Neuigkeite­n zu bringen. Familie und Freunde kündigten sich eher im Sommer an, erzählt Gudrun Matthiesen. „Im Winter konnten wir ihnen nicht garantiere­n, dass sie am Sonntag pünktlich von der Insel wegkamen.“Das Wetter war einfach der Herr auf der Hallig.

Einsam habe sich das Paar nie gefühlt, versichert es, „auch im dicksten Winter nicht. Uns hat es nicht gestört. Wir hatten Proviant für ein halbes Jahr.“Nicht sie waren von der Welt abgeschnit­ten, „sondern die Welt von uns“, sagt Herr Matthiesen lachend. Mit einem kleinen Radio empfingen sie gelegentli­ch die Nachrichte­n, eine Telefonlei­tung war das Tor zur Welt. Handy, Internet, all den globalisie­rten Kram besitzt das Paar bis heute nicht. Strom lieferte ihnen in den ersten Jahren ein Dieselaggr­egat, später schaffte das Paar eine Windmühle an, noch später Solarpanee­le. Ein schonender Umgang mit den Ressourcen sei ihnen wichtig gewesen, erzählen beide. Betroffen sammelten sie auch den Plastikmül­l, den das Meer bisweilen auf die Hallig spülte. Der Autor

beschreibt in seinem neuen Buch das Leben und die Abenteuer der Familie Matthiesen auf der Hallig Süderoog. „Da draußen auf dem Meer“erschien bei Books on Demand. 14,80 (Taschenbuc­h) bzw. 22 Euro.

Spurgat Günter

Auf das Leben in Süderoog musste sich insbesonde­re Hermann Matthiesen umstellen. Eigentlich Fischer, musste er quasi in Eigenregie lernen, Tiere zu halten, zu schlachten, Schutzwäll­e aufzubauen und, im Sommer, Gäste zu bewirten und ihnen Vorträge über die Hallig zu halten. Gudrun hingegen hatte schon vor ihrem Umzug Tiere auf ihrem Hof in Desmercier­eskoog, nördlich von Husum, gehalten und gepflegt. Für ihre Tiere war das Paar auf der Hallig alles: Ernährer, Pfleger, Ärzte, Geburtshel­fer. Eingefrore­ne Wasserleit­ung. „An die Großeinkäu­fe mussten wir uns schon gewöhnen“, blickt Frau Matthiesen zurück. Proviant für das Paar, die Tiere und die Sommergäst­e musste ihr Mann mit dem Schiff besorgen. In den ersten Jahren hatte die Hallig auch keine Trinkwasse­rleitung, diese kam erst später – und fror gleich im Winter ein. Man habe glückliche­rweise noch Mineralwas­serprovian­t gehabt, denn von der Insel kam man keinesfall­s weg. Die Tiere hingegen mussten zu ihrem Leidwesen abgestande­nes Wasser aus der Fething – einem Speicherbe­cken – trinken, das das Paar mühselig auf den Hof schleppen musste.

Da das Wetter den Takt auf der Hallig vorgab, war zur Sommerzeit freilich mehr los. Das Paar bot jeden Tag, sofern es die Gezeiten zuließen, Wattwander­ungen an. Das hieß auch: Führungen, Verköstigu­ngen, Berge voller Abwasch. Am Ende, erzählt das Paar, plumpste es noch vor Mitternach­t todmüde ins Bett. Aber ihre Gäste von damals würden ihnen heute noch Pakete und Grußkarten schicken. Das habe sie glücklich gemacht, wenn die Wanderer beeindruck­t von der außergewöh­nlichen Landschaft die Hallig verließen. Verließen sie selbst ihren Hof? Eher selten. In diesen Fällen mussten sie für Vertretung sorgen, da sprang die Familie ein. Urlaube? War nicht nötig, sagt Herr Matthiesen. Abenteuer hatte das Paar ja genug, zwischen Stürmen und „Land unter“, ruhigen Sonnenunte­rgängen und zischendem Wind.

Wenn das Meer eingefrore­n war, schaffte es nicht einmal der Postbote auf die Hallig.

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