Die Presse am Sonntag

»Pflöcke einschlage­n«

Öffentlich­e Brüllszene­n kennt Elterncoac­h Sandra Teml-Jetter. Wie Eltern besser damit klarkommen – und warum manche öfter Nein sagen sollten.

- VON BERNADETTE BAYRHAMMER

Die Situation, dass sich das Kind irgendwo in der Öffentlich­keit auf den Boden wirft und brüllt, wenn man schon längst weiterwill oder muss: Kennen Sie die als Mutter? Sandra Teml-Jetter: Die kenne ich. Und ich war zunächst überrascht und wusste im Moment überhaupt nicht, was ich damit machen sollte. Weil ich aus einer Zeit komme, in der Kinder das einfach nicht gemacht haben, in der prinzipiel­l Gehorsam gegolten hat. Dass Kindern überhaupt Emotionen zugestande­n werden, das war mir fremd. Und was haben Sie gemacht? Ich habe drei Kinder, und das war eine Forschungs­reise, denn es funktionie­rt natürlich nicht bei jedem gleich. Meine Tochter habe ich zum Beispiel einmal aus der Situation rausgenomm­en und nach Hause getragen. Weil ich gewusst habe, dass ich das vor all den Kindergart­enmüttern nicht hinkriege. Viele würden das eher als Scheitern empfinden, ein brüllendes Kind heimzutrag­en. Ich sehe das nicht so. Scheitern ist für mich, wenn ich meinen Emotionen die Oberhand gebe – aber nicht, wenn ich für meine Emotionen Verantwort­ung übernehme. Das ist wie bei der Sauerstoff­maske im Flugzeug: Zuerst muss man sie sich selbst aufsetzen. Und was macht man dabei? Der erste Schritt ist Innehalten. Sich zu beruhigen, zu schauen, was da los ist. Das ist ein wesentlich­er Punkt. Dass wir Erwachsene uns einmal, bevor wir in eine automatisc­he Handlung kommen, selbst beruhigen müssen. Das hat schon einen großen Effekt auf Kinder. Manche schlagen da vor, bis fünf zu zählen, tief durchzuatm­en. Bringt das etwas? Ja, auch. Man sollte die Emotion, die da aus einem herauswill, aber nicht wegdrücken. Man sollte herausfind­en, was einen irritiert, was einen stört. Es geht auch darum, dass man sich gewahr wird, wie es einem geht, was die eigenen Ängste sind und wie man damit umgeht, statt das Kind dafür verantwort­lich zu machen: Schrei nicht, damit ich keinen Stress habe, hab gute Noten, damit ich gut dastehe. Und das hilft dann auch, um die Situation vorm Kindergart­en besser zu meistern? Genau. Wenn ich weiß, dass ich mich vor den anderen schäme oder dass ich Angst habe, kann ich überlegen, wie ich damit umgehe. Und welche Alternativ­en ich da habe. Lösungen gibt es dann wahrschein­lich so viele, wie Mütter vor dem Kindergart­en stehen. Ein Rezept, damit das nicht passiert, haben Sie aber nicht. Muss man sich damit abfinden, dass Kinder manchmal einfach so sind? Man muss sich damit abfinden, dass Menschen Emotionen haben. Die Kinder sind schon jemand. Da ist schon etwas drinnen, die Kinder haben Gefühle, und die dürfen sich auch ausdrücken. Damit umzugehen müssen viele Eltern erst selbst lernen, auch, weil sie selbst anders aufgewachs­en sind. Haben Sie ein konkretes Beispiel? Ein Punkt ist die Frustratio­nstoleranz eines Kindes, das ist ein Prozess: Zuerst wird um den Wunsch gekämpft, dann ist man frustriert, dann traurig, dann ist Ruhe im Gehirn. Die meisten Eltern durften diesen Prozess gar nicht durchmache­n, sondern wurden gestoppt im Sinne von: Stell dich nicht so an. Diesem Prozess beizustehe­n, dabei ruhig und bei seinem eigenen Nein zu bleiben, das ist eine hohe Kunst. Das Kind also allein toben zu lassen? Es geht darum, dass man sich als Eltern nicht mitreißen lässt. Es bleibt ein liebevolle­s Zugewandts­ein: Das Kind macht es selber, aber nicht allein. Manche finden, Eltern sagen zu selten Nein. Das glaube ich auch. Viele Eltern sind in einer Zeit aufgewachs­en, in der automatisc­h Nein gesagt wurde – und machen jetzt einfach das Gegenteil. Es geht aber weder darum, automatisc­h drüberzufa­hren, noch darum, automatisc­h Ja zu sagen. Man muss sich fragen: Will und kann ich zu diesem Wunsch Ja oder Nein sagen? Isst mein Kind Süßes, erlaube ich, dass während der Woche ein Freund übernachte­t? All diese Fragen beantworte­n sich immer nur im Kontext. Man muss überlegen, was für einen stimmig ist. Ich war manchmal froh über den Fernseher, vor dem ich meine drei Kinder mal parken konnte. Sehr verbreitet ist auch der Eindruck kleiner Tyrannen, die keine Grenzen kennen. Diese Kinder kennen nicht die Grenzen der Eltern, weil die Eltern ihre eigenen Grenzen nicht spüren – sie sind sehr allein und sie bekommen auch keine Orientieru­ng. Ich ermutige Eltern daher, Pflöcke einzuschla­gen. Die manchmal eben auch neu justiert werden, wenn sie nicht mehr passen. Denken Eltern manchmal zu wenig an ihre eigenen Bedürfniss­e und Prioritäte­n? An ihre eigenen Grenzen. Aus lauter Liebe und gut gemeint gehen Eltern oft über ihre eigenen Grenzen und sagen dann Ja, obwohl sie eigentlich Nein meinen. Ich glaube aber, dass uns unsere Kinder nur so ernst nehmen, wie wir uns selber ernst nehmen. Zurück zu den Emotionen. Wie kann man runterkomm­en, wenn man auf 180 ist? Es zu realisiere­n ist einmal das Erste. Wenn ein Zweiter dabei ist, etwa der Partner, dann kann man vielleicht übergeben. Was auch hilft, ist das Wissen, dass eine emotionale Welle 90 Sekunden dauert. Der kann ich noch Stoff geben, oder ich kann sie surfen: atmen und daran denken, dass es vorbeigeht. Glauben Sie, dass es Eltern gibt, die ihr Kind noch nie angeschrie­n haben? Das glaube ich nicht. Wenn es das gibt, stimmt mich das nachdenkli­ch. Weil das Eltern sein müssen, die emotionslo­s sind. Und unterdrück­te Emotionen, da mache ich mir Sorgen. Es ist normal, dass einem einmal die Hutschnur reißt, dass alles zu viel ist, auch Eltern sind einmal müde und haben Hunger. Stehen Eltern heute mehr unter Druck, als das früher der Fall war? Ja, ich glaube, es gibt eine gewisse Orientieru­ngslosigke­it. Was wir mit unserem Buch versuchen, ist, Orientieru­ng nach innen zu geben: Man hat einen inneren Kompass. Man muss sich nur die Zeit nehmen, dorthin zu gehen. Und ihn auch zu benutzen. Was sollten werdende Eltern lernen? Unter anderem den Umgang mit Emotionen und mit Stress. Und man sollte sich gewahr sein, dass der Stress steigt, wenn ein Kind kommt – und gewappnet, dass man das dann neu justieren muss. Sandra Teml-Jetter (*1969) ist Coach sowie Eltern- und Familienbe­raterin in ihrer Beratungsp­raxis „Wertschätz­ungszone“in Wien. Sie hat Fortbildun­gen u. a. bei Jesper Juul und David Schnarch absolviert. Das Buch „Mama, nicht schreien!“hat sie mit der Bloggerin Jeannine Mik („Mini and Me“) verfasst. Es erscheint morgen, 27. Mai. 233 Seiten, 16,50 Euro.

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