»Pflöcke einschlagen«
Öffentliche Brüllszenen kennt Elterncoach Sandra Teml-Jetter. Wie Eltern besser damit klarkommen – und warum manche öfter Nein sagen sollten.
Die Situation, dass sich das Kind irgendwo in der Öffentlichkeit auf den Boden wirft und brüllt, wenn man schon längst weiterwill oder muss: Kennen Sie die als Mutter? Sandra Teml-Jetter: Die kenne ich. Und ich war zunächst überrascht und wusste im Moment überhaupt nicht, was ich damit machen sollte. Weil ich aus einer Zeit komme, in der Kinder das einfach nicht gemacht haben, in der prinzipiell Gehorsam gegolten hat. Dass Kindern überhaupt Emotionen zugestanden werden, das war mir fremd. Und was haben Sie gemacht? Ich habe drei Kinder, und das war eine Forschungsreise, denn es funktioniert natürlich nicht bei jedem gleich. Meine Tochter habe ich zum Beispiel einmal aus der Situation rausgenommen und nach Hause getragen. Weil ich gewusst habe, dass ich das vor all den Kindergartenmüttern nicht hinkriege. Viele würden das eher als Scheitern empfinden, ein brüllendes Kind heimzutragen. Ich sehe das nicht so. Scheitern ist für mich, wenn ich meinen Emotionen die Oberhand gebe – aber nicht, wenn ich für meine Emotionen Verantwortung übernehme. Das ist wie bei der Sauerstoffmaske im Flugzeug: Zuerst muss man sie sich selbst aufsetzen. Und was macht man dabei? Der erste Schritt ist Innehalten. Sich zu beruhigen, zu schauen, was da los ist. Das ist ein wesentlicher Punkt. Dass wir Erwachsene uns einmal, bevor wir in eine automatische Handlung kommen, selbst beruhigen müssen. Das hat schon einen großen Effekt auf Kinder. Manche schlagen da vor, bis fünf zu zählen, tief durchzuatmen. Bringt das etwas? Ja, auch. Man sollte die Emotion, die da aus einem herauswill, aber nicht wegdrücken. Man sollte herausfinden, was einen irritiert, was einen stört. Es geht auch darum, dass man sich gewahr wird, wie es einem geht, was die eigenen Ängste sind und wie man damit umgeht, statt das Kind dafür verantwortlich zu machen: Schrei nicht, damit ich keinen Stress habe, hab gute Noten, damit ich gut dastehe. Und das hilft dann auch, um die Situation vorm Kindergarten besser zu meistern? Genau. Wenn ich weiß, dass ich mich vor den anderen schäme oder dass ich Angst habe, kann ich überlegen, wie ich damit umgehe. Und welche Alternativen ich da habe. Lösungen gibt es dann wahrscheinlich so viele, wie Mütter vor dem Kindergarten stehen. Ein Rezept, damit das nicht passiert, haben Sie aber nicht. Muss man sich damit abfinden, dass Kinder manchmal einfach so sind? Man muss sich damit abfinden, dass Menschen Emotionen haben. Die Kinder sind schon jemand. Da ist schon etwas drinnen, die Kinder haben Gefühle, und die dürfen sich auch ausdrücken. Damit umzugehen müssen viele Eltern erst selbst lernen, auch, weil sie selbst anders aufgewachsen sind. Haben Sie ein konkretes Beispiel? Ein Punkt ist die Frustrationstoleranz eines Kindes, das ist ein Prozess: Zuerst wird um den Wunsch gekämpft, dann ist man frustriert, dann traurig, dann ist Ruhe im Gehirn. Die meisten Eltern durften diesen Prozess gar nicht durchmachen, sondern wurden gestoppt im Sinne von: Stell dich nicht so an. Diesem Prozess beizustehen, dabei ruhig und bei seinem eigenen Nein zu bleiben, das ist eine hohe Kunst. Das Kind also allein toben zu lassen? Es geht darum, dass man sich als Eltern nicht mitreißen lässt. Es bleibt ein liebevolles Zugewandtsein: Das Kind macht es selber, aber nicht allein. Manche finden, Eltern sagen zu selten Nein. Das glaube ich auch. Viele Eltern sind in einer Zeit aufgewachsen, in der automatisch Nein gesagt wurde – und machen jetzt einfach das Gegenteil. Es geht aber weder darum, automatisch drüberzufahren, noch darum, automatisch Ja zu sagen. Man muss sich fragen: Will und kann ich zu diesem Wunsch Ja oder Nein sagen? Isst mein Kind Süßes, erlaube ich, dass während der Woche ein Freund übernachtet? All diese Fragen beantworten sich immer nur im Kontext. Man muss überlegen, was für einen stimmig ist. Ich war manchmal froh über den Fernseher, vor dem ich meine drei Kinder mal parken konnte. Sehr verbreitet ist auch der Eindruck kleiner Tyrannen, die keine Grenzen kennen. Diese Kinder kennen nicht die Grenzen der Eltern, weil die Eltern ihre eigenen Grenzen nicht spüren – sie sind sehr allein und sie bekommen auch keine Orientierung. Ich ermutige Eltern daher, Pflöcke einzuschlagen. Die manchmal eben auch neu justiert werden, wenn sie nicht mehr passen. Denken Eltern manchmal zu wenig an ihre eigenen Bedürfnisse und Prioritäten? An ihre eigenen Grenzen. Aus lauter Liebe und gut gemeint gehen Eltern oft über ihre eigenen Grenzen und sagen dann Ja, obwohl sie eigentlich Nein meinen. Ich glaube aber, dass uns unsere Kinder nur so ernst nehmen, wie wir uns selber ernst nehmen. Zurück zu den Emotionen. Wie kann man runterkommen, wenn man auf 180 ist? Es zu realisieren ist einmal das Erste. Wenn ein Zweiter dabei ist, etwa der Partner, dann kann man vielleicht übergeben. Was auch hilft, ist das Wissen, dass eine emotionale Welle 90 Sekunden dauert. Der kann ich noch Stoff geben, oder ich kann sie surfen: atmen und daran denken, dass es vorbeigeht. Glauben Sie, dass es Eltern gibt, die ihr Kind noch nie angeschrien haben? Das glaube ich nicht. Wenn es das gibt, stimmt mich das nachdenklich. Weil das Eltern sein müssen, die emotionslos sind. Und unterdrückte Emotionen, da mache ich mir Sorgen. Es ist normal, dass einem einmal die Hutschnur reißt, dass alles zu viel ist, auch Eltern sind einmal müde und haben Hunger. Stehen Eltern heute mehr unter Druck, als das früher der Fall war? Ja, ich glaube, es gibt eine gewisse Orientierungslosigkeit. Was wir mit unserem Buch versuchen, ist, Orientierung nach innen zu geben: Man hat einen inneren Kompass. Man muss sich nur die Zeit nehmen, dorthin zu gehen. Und ihn auch zu benutzen. Was sollten werdende Eltern lernen? Unter anderem den Umgang mit Emotionen und mit Stress. Und man sollte sich gewahr sein, dass der Stress steigt, wenn ein Kind kommt – und gewappnet, dass man das dann neu justieren muss. Sandra Teml-Jetter (*1969) ist Coach sowie Eltern- und Familienberaterin in ihrer Beratungspraxis „Wertschätzungszone“in Wien. Sie hat Fortbildungen u. a. bei Jesper Juul und David Schnarch absolviert. Das Buch „Mama, nicht schreien!“hat sie mit der Bloggerin Jeannine Mik („Mini and Me“) verfasst. Es erscheint morgen, 27. Mai. 233 Seiten, 16,50 Euro.