Des Menschen sonderbare Wirbelsäule
In dieser Sekunde leidet rund ein Drittel der Österreicher an Rückenschmerzen. In 85 Prozent der Fälle ist ihre Ursache mit Röntgen und MRT nicht zu sehen – und doch wird oft zum Skalpell gegriffen, anstatt erst auf ein Muskeltraining zu setzen.
Noch vor dem Aufstehen beginnt Markus mit den ersten Übungen für seine Wirbelsäule. Er streift die Bettdecke zur Seite, dreht sich auf den Rücken. Dann winkelt der 49-Jährige die Beine an, lässt sie langsam nach links auf die Matratze sinken, hebt sie wieder an und senkt sie auf der rechten Seite ab. Zehnmal wird das Prozedere wiederholt, bevor der Softwareentwickler, der seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will, das erste Mal an diesem Tag seine Augen öffnet.
„Das Kippen macht den Rücken locker, sodass ich besser aufstehen kann“, sagt Markus. „Besser heißt mit weniger Schmerzen.“Ganz ohne geht es seit einigen Jahren nicht mehr. „Mit Anfang 20 hatte ich den ersten Hexenschuss im Kreuz: Auf dem Weg in die Firma musste ich mich an einem Straßenschild festhalten, um nicht vor Schmerz umzukippen“, erinnert er sich an seinen ersten Bandscheibenvorfall, der zweite folgte 2010. „Ich musste damals viel heben und habe wenig Sport gemacht, diese Kombination war wohl beide Male die Ursache“, meint er. Allein ist er mit seinem Befund nicht. Doppelt so oft im Krankenstand. „In Österreich sind Rückenschmerzen das Volksleiden Nummer eins und nach Atemwegserkrankungen der häufigste Grund, zum Arzt zu gehen“, sagt Bernhard Stengg, Facharzt für Physikalische Medizin. „In dieser Sekunde hat etwa ein Drittel der Bevölkerung Schmerzen im Rückgrat, Tendenz steigend.“Anders gerechnet: „Rückenpatienten gehen doppelt so oft in den Krankenstand wie Normalbürger.“
Ist die Neigung zu Rückenschmerzen genetisch bedingt, handelt es sich bei ihren Hauptauslösern um Fehlund Überlastungen. „80 Prozent aller Menschen erleiden mindestens einmal im Leben akute Rückenschmerzen“, sagt der Leiter des Wiener Schmerztherapiezentrums Paincare. „15 Prozent davon sind spezifisch, das heißt, sie haben eine eindeutige Ursache wie einen Tumor, eine Wirbelfraktur oder eine Nervenkompression aufgrund eines Bandscheibenvorfalls.“Letzterer, auch Prolaps genannt, tritt meist im unteren Lendenbereich auf und ist mit starken ausstrahlenden Schmerzen, Taubheitsund Lähmungserscheinungen verbunden. Besonders gefährdet sind Personen im Alter von 30 bis zu 50 Jahren,
»Rückenpatienten gehen doppelt so oft in Krankenstand wie Normalbürger.«
Übergewichtige und Untrainierte, die den Großteil des Tages „versitzen“.
Weit häufiger der „unspezifische“Fall: „Der überwiegenden Mehrheit der Rückenschmerzen kann im Röntgen oder MRT keine eindeutige anatomische Ursache zugeordnet werden“, sagt Stengg. Im Alltag der Betroffenen lässt sich indes einiges finden: eine schlechte Haltung, ungewohnte, körperliche Beanspruchung und Stress. „Bei diesen Rahmenbedingungen reicht eine zu schnelle Drehung, und schon ist ein akuter Schmerz da“, so der Mediziner. „Vor allem Sorgen und Ängste drücken uns auf den Rücken und machen ihn sprichwörtlich krumm.“
„Ich war gefangen in einem Schmerzkreislauf“, erinnert sich Markus. „Liegen half nicht, bewegen auch nicht.“Abhilfe brachten Änderungen im Lebensstil sowie eine „Mixtherapie“