Plovdiv: Eine Stadt entdeckt ihr Erbe
In den Galerien und Ausstellungen von Europas Kulturhauptstadt 2019 ist das Gedenkjahr 1989 ein großes Thema, und auch der künstlerische Umgang mit der sozialistischen Vergangenheit Bulgariens und der gesamten Region. Die uralte Stadt will mit ihrer beweg
Wenn die Reste der Berliner Mauer die sichtbaren Narben der deutschen Hauptstadt sind, dann sind ein paar Teile der Narben sehr bunt und stehen heute mitten in Plovdiv, gleich neben der alten Cumaja-Moschee mit ihren rostroten Ziegeln und dem noch älteren Stadion aus der römischen Zeit, dessen Stufen weiß und blitzblank in der Mittagssonne leuchten.
Auf einem Stück der Berliner Mauer hat der Maler Thierry Noir abstrakte Gesichter in grellen Farben gemalt, auf einem anderen blickt ein ikonisch porträtierter Lou Reed prophetisch in den Himmel. Und von einem dritten Teil schauen verschmitzt Iggy Pop und David Bowie ins Publikum, „You look so good to me, here in this old saloon, way back in west Berlin“, stehen Fragmente eines Liedes unter ihren Köpfen.
„Art Liberty“heißt die Freiluftausstellung mit den Mauerteilen, die im Herzen Plovdivs auf einem so eigenwilligen wie interessanten Platz zu sehen ist. Denn hier, am Ende des zentralen Boulevards Knyaz Alexander I., vereinigen sich das römische, osmanische, sozialistische sowie moderne Erbe Bulgariens. Die Ausstellung ist Teil des kulturellen Angebots, das die südbulgarische Stadt anlässlich ihres „Amtes“als Europäische Kulturhauptstadt 2019 präsentiert. In den Galerien, Theatern und Kulturzentren ist das Gedenkjahr 1989 sehr präsent, das betrifft nicht nur „Art Liberty“. „Communism never happened“steht an einer Wand in schlichten schwarzen Lettern in der Städtischen Kunstgalerie unweit des Platzes bei der Moschee. Eine provokante Negierung
seitens des rumänischen Künstlers Ciprian Muresan,¸ was die Vergangenheit der Region betrifft? Oder eine Überlegung, dass der Sozialismus in seiner intendierten Urform nie existiert hat?
„Je mehr wir von den Künstlern aus Ost- und Südosteuropa gesammelt haben“, sagt Nathalie Hoyos, „je mehr wir uns damit beschäftigt haben, desto mehr haben wir gesehen: Ja, es gibt Parallelen, aber auch viele Unterschiede in den einzelnen Ländern.“Die Zeit vor und nach 1989 wirkt in künstlerischer Hinsicht verschieden stark nach.
Die Österreicherin Hoyos ist Kuratorin der Ausstellungsreihe „Listen To Us“von der Art Collection Telekom. Bis 30. Juni sind die Kunstwerke der Sammlung in mehreren Galerien zu sehen. Neben dem kampfeslustigen „Communism“-Schriftzug zeigt Hoyos in der Städtischen Kunstgalerie auf die Fotografien des kroatischen Künstlers Igor Grubic,´ der Arbeiter einer Kohlemine mit Engelsflügeln porträtiert hat. Eine andere Künstlerin hat Computerviren ein Aussehen gegeben, als ein grünes, wuscheliges Etwas; in der Galerie reihen sich abstrakte Figuren an düstere Zeichnungen und scheinbar zusammenhanglose Bilderreihen, die etwa Luther, die Suffragetten und Micky Maus zeigen. Allesamt liefern sie Stoff für viele Gedankengänge.
So unterschiedlich der Umgang der exkommunistischen Länder mit ihrer
Plovdiv
in Südbulgarien ist heuer gemeinsam mit der süditalienischen Stadt Matera Kulturhauptstadt Europas. Etwa 350.000 Menschen leben in Plovdiv. Der Stadtteil Stolipinovo gilt mit 45.000 RomaBewohnern als die größte RomaSiedlung in der gesamten Region.
Mehr als 500
Veranstaltungen finden im Lauf des Jahres in Plovdiv sowie Umgebung statt. Programm: plovdiv2019.eu/en eigenen Geschichte sein mag, so entschlossen scheint die bulgarische Kulturwelt dieser Tage zu sein, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. „Wir haben versucht, es zu leugnen, wir haben sogar versucht, es zu zerstören“, sagt Sofias Kulturminister, Boil Banov, im Gespräch mit österreichischen Journalisten über das sozialistische Erbe. „Wir haben aber erkannt, dass wir Teile davon erhalten und zeitgenössisch interpretieren sollten.“ Zerfledderter Charme. Banov führt das Modell der Cˇitalisˇta aus, der Lese- und Kulturzentren in kommunistischen Zeiten, die zwar ideologisch gefärbt, dennoch aber als Mittelpunkte kulturellen Schaffens in Dorf und Stadt dienten. Mitte der 1980er-Jahre gab es noch fast 4200 Cˇitalisˇtas, nach dem Zerfall der Ostblockstaaten verloren sie ihre Bedeutung oder wurden privatisiert. Heute würden sich viele Länder für das Cˇitalisˇta-Modell samt ihrer „anspruchsvollen Theater“interessieren, sagt Banov. Und Plovdiv als Kulturhauptstadt biete einen geeigneten, auf die Gegenwart fokussierten Rahmen für diese Debatten. Denn von einer zeitgenössischen Ost-West-Teilung will Banov nichts wissen: „Ich fühle mich nicht geteilt, in keinem Teil von Europa“, sagt er. Wer auch immer diese Termini benutze, habe sich nicht weiterentwickelt. „Die Zeit der Großreiche ist vorbei.“
In Plovdiv haben vergangene Reiche jedenfalls viel hinterlassen. Für ihren großen Auftritt in diesem Jahr hat die Stadt die Artefakte herausgeputzt und zeigt sich von ihrer attraktivsten Seite. In den Straßen der Innenstadt wurden manche der alten Häuser behutsam restauriert, andere haben noch den zerfledderten, abgebröckelten Charme alter Tage. Ramschläden reihen sich an Geschäfte, in denen edle Kleidung feilgeboten wird, dazwischen steht ein niedriges, herrschaftliches Haus mit Balustrade und hohen Fenstern, das so auch in einem imperialen Kurort stehen könnte. „Together“lautet das Motto Plovdivs in diesem Jahr, das gleichzeitig auch als Skulptur mit bunten, überdimensionierten Buchstaben in der Innenstadt steht. Ein kleines Mädchen steckt seinen Kopf durch das „o“, während die Mutter versucht, die Szenerie fotografisch einzufangen.
In der Altstadt, ein paar Gehminuten von Knyaz Alexander I. entfernt, sind die schmucken Holzhäuser der osmanischen Ära gut erhalten und großteils restauriert. Durch verwinkelte Gassen, die aus unebenen Pflastersteinen bestehen, geht es etwa in das Haus des armenischen Händlers Hindliyan, der ein Faible für opulente Einrichtung hatte, ja für teure Möbel aus Wien. Das Haus mit der prachtvollen blauen Fassade ist innen wie außen detailreich verziert, die symmetrische Architektur des Hauses ist weitgehend erhalten. In den Räumen mit den schweren Teppichen riecht es nach Holz und Ofen, der Boden knarzt, man kann das alte Leben förmlich greifen.
In diesem Stil geht es in der Altstadt weiter: Das rot gestrichene Klianti-Haus mit dem außergewöhnlichen Stuck, das herrschaftliche Haus des Händlers Nikola Nedkovich. . . Plovdiv hat schon zwei Mal vergeblich versucht, die Altstadt als Unesco-Kulturerbe anerkennen zu lassen. Die Stadt argumentiert damit, dass hier auf kleinstem Platz verschiedene Epochen vereint sind. Denn neben den Holzbauten stehen freigelegte Säulen eines römischen Hauses, Plovdiv war auch Zentrum der nationalen bulgarischen Bewegung im 19. Jahrhundert und eines der bulgarisch-orthodoxen Kirche. Und unweit der Altstadt, im antiken Theater, dessen Überreste man eher zufällig entdeckt hatte, veranstalteten die alten Römer Gladiatorenkämpfe. Ja, die Stadt ist ein hübsches historisches Mischmasch: 8000 Jahre lang war Plovdiv wohl durchgehend bewohnt und gilt überhaupt als eine der ältesten Städte in ganz Europa.
»Communism never happened« steht provokant in der Städtischen Kunstgalerie.
Ruf nach Investitionen. „Das Gesicht von Plovdiv hat sich schon verändert“, sagt Vizebürgermeister Rozalin Petkov. In den vergangenen Jahren habe man aber nicht neue Gebäude bauen wollen, „sondern die alten erhalten“. Damit meint Petkov auch die sozialistische Architektur, die erst jetzt allmäh
Plovdiv und Umgebung sollen zum ökonomischen Herzland Bulgariens werden.
lich restauriert werde. Europäische Kulturhauptstadt zu sein bedeute auch, dass die Stadt in die Infrastruktur investieren werde, in den Umweltschutz. Und: Dass sich die Stadt aktiv um Investoren bemühe. „Die Kulturhauptstadt hat uns schon viele Partnerschaften gebracht.“Firmen würden ihr Engagement ausweiten, so habe der österreichische Energieversorger EVN eine große Konferenz in Plovdiv abgehalten. Neben der EVN gehört auch Liebherr zu den großen Firmen, die in der Region tätig sind.
Man wolle Plovdiv zum ökonomischen Herzland Bulgariens ausbauen, sagt der Vizebürgermeister, der auch für Wirtschaftsfragen zuständig ist. Er wirbt mit niedrigen Steuern und der geografisch bedeutsamen Lage am Fluss Mariza, am Schienen- und Straßen