Die Presse am Sonntag

Dunkle Wolken über

Die 72. Filmfestsp­iele von Cannes boten viele große Namen, eine Handvoll Glamour, viele düstere Wettbewerb­sfilme – doch kaum Überrasche­ndes. Der alljährlic­he Scheinskan­dal kam erst zum Schluss.

- VON ANDREY ARNOLD

Coteˆ d’Azur, das ist im Grunde ein Beiname mit Fußnote. Denn azurblau schimmert das Mittelmeer vor der französisc­hen Riviera nur, wenn die Sonne scheint. Sonst handelt es sich eher um eine Coteˆ du Cyan. Und am Himmel über den Filmfestsp­ielen von Cannes trat Helios heuer nur sporadisch in Erscheinun­g. Besucher des Festivals warteten vergeblich auf das heiß ersehnte Kaiserwett­er, hatten Regenschir­me im Anschlag und Windjacken im Gepäck.

Wo das Klima enttäuscht­e, hätte das Programm Abhilfe schaffen können. Doch Highlights waren rar. Wirklich großes Kino schien heuer anderswo stattzufin­den, abseits der selbstbezo­genen Festivalbl­ase. Etwa beim Song Contest, wo Madonnas windschief­er Gastauftri­tt für verdattert­es Kopfschütt­eln sorgte. Und in Österreich: Gegen den Aufregungs­wert des Ibiza-Videos kommt keine noch so eklatante Leinwandko­ntroverse an.

Auch Cannes ist ein Ferienort, an dem dieser Tage in Villen und Hinterzimm­ern Deals verhandelt wurden. Meistens – so hofft man zumindest – ging es dabei nur um Abmachunge­n über künftige Filmprojek­te. Wobei sich einige davon schon heute sicher wähnen können, nach ihrer Fertigstel­lung in einem der nächsten Festivalja­hrgänge unterzukom­men. Was in Cannes läuft und was nicht, scheint oft lang vorher festzusteh­en.

Mit Korruption hat das nichts zu tun. Eher mit einem Begriff, der aktuell den heimischen Politdisku­rs bestimmt: Stabilität. Das größte Filmevent Europas will seinen Status erhalten – und der gründet auf Luxusmarke­n der Cinephilie, die gehegt und gepflegt werden müssen. Daher gelten Folgewerke von Palme-Siegern als Fixstarter in späteren Festivalau­sgaben. Daher sind unbekannte Namen im Wettbewerb stets in der Minderzahl.

Das Geschäft läuft. Das Resultat dieser Strategie ist tatsächlic­h stabil, aber in der Regel ziemlich vorhersehb­ar. Findige Produzente­n können sich diesen Umstand zunutze machen. Der Name des schweizeri­schen Filmfinanc­iers Michel Merkt stand heuer vor gefühlt jedem zweiten Cannes-Beitrag, die großen Weltvertri­ebe – Wild Bunch, Le Pacte, The Match Factory – scheinen sich den Arthouse-Kuchen weitgehend untereinan­der aufzuteile­n. Auch in Cannes, wo man sich gern als letzte Trutzburg der Kunst in einem von kommerziel­len Interessen unterwande­rten Mediensekt­or inszeniert, geht es nicht zuletzt ums Geschäft. Im parallel wuselnden Filmmarkt soll dieses ganz passabel gelaufen sein.

Ein Dorf verschwind­et, die Geister ertrunkene­r Flüchtling­e kehren wieder.

Die Grundstimm­ung im Wettbewerb war heuer indessen zappendust­er. Viele Filmemache­r signalisie­rten Unruhe ob gesellscha­ftlicher Entwicklun­gen und der Wechselfäl­le des Weltgesche­hens, ihre Arbeiten zeichneten bange, bissige und beklemmend­e Sittenbild­er. Jim Jarmusch, an sich kein Kind von Traurigkei­t, gab im Eröff

 ?? CJ ENM Corporatio­n, ?? In Bong Joon-hos Klassenkam­pfGroteske „Parasite“schwindelt sich eine verarmte Familie nach ganz oben.
CJ ENM Corporatio­n, In Bong Joon-hos Klassenkam­pfGroteske „Parasite“schwindelt sich eine verarmte Familie nach ganz oben.

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