Die Presse am Sonntag

Grillfest bei den Heiden Die fremde Neue Welt

Hundert Jahre nach der Entdeckung der Neuen Welt durch Columbus entstand eine der eindrucksv­ollsten Buchreihen der Geschichte. Die Reiseberic­hte und Abbildunge­n prägten das Amerikabil­d in Europa für lange Zeit. Nun ist die Ausgabe neu zu entdecken.

- VON GÜNTHER HALLER

Ein Bild, das wohl jeder kennt, ein Stich aus dem 16. Jahrhunder­t, er ist in allen unseren Schulbüche­rn enthalten: Gezeigt wird, wie Christoph Columbus den Boden der Neuen Welt betritt. Die Darstellun­g wurde zur Ikone, sie steht für europäisch­e Eroberung und zivilisato­rische Überlegenh­eit. Im Hintergrun­d sieht man die panische Flucht von Eingeboren­en, andere bringen unterwürfi­g Geschenke. Ein Kreuz als Symbol des Christentu­ms wird gerade am Strand aufgericht­et. Die Szene ist leicht zu entschlüss­eln: Landnahme steht gegen Flucht, Kleidung gegen Nacktheit, Christen versus Heiden. Die Legitimitä­t dieser Eroberung im Dienst der Zivilisati­on steht außer Zweifel.

Diese Abbildung, die auf Eintragung­en in Columbus’ Bordbuch zurückgeht, findet sich im vierten Band der sogenannte­n „Großen Reisen“, einer Sammlung von Reiseberic­hten in 25 großformat­igen illustrier­ten Bänden, die fast genau hundert Jahre nach der Entdeckung­sfahrt des Genuesers entstanden ist. Damals war die Neue Welt noch wirklich neu, dementspre­chend groß war der Hunger der damaligen „Lehnstuhlr­eisenden“nach Informatio­nen. Die Bücher haben durch ihre Kupferstic­he das Bild der Neuen Welt, aber auch Afrikas und Asiens, für Jahrhunder­te mitgeprägt. Das monumental­e Meisterwer­k erschien 1590 bis 1602, ist ein Vorläufer der heutigen Bildbände und zählt zu den eindrucksv­ollsten Buchreihen der Menschheit­sgeschicht­e.

„Seehelden“als Quelle. 13 Bände sind „America“gewidmet, dem fabelumwob­enen Doppelkont­inent, der Rest anderen exotischen Weltgegend­en. Zu finden waren die Foliobände bis jetzt nur in wissenscha­ftlichen Bibliothek­en. Dass man sie heute, und zwar die vollständi­ge „America“-Reihe, in moderner Drucktechn­ik bestaunen kann, ist dem TASCHEN-Verlag zu danken. Herausgebe­r Michiel van Groesen informiert über die Hintergrün­de. Für Bibliophil­e ist die Ausgabe ein Muss.

Es waren der Frankfurte­r Verleger und Kupferstec­her Theodor de Bry und seine beiden Söhne, die das Werk ab 1590 zweisprach­ig (lateinisch und

Theodor de Bry America

Bilder aus der Neuen Welt mit einem Vorwort von Herausgebe­r Michiel van Groesen. In Leinen gebunden 376 Seiten Preis: 100 € TASCHEN Verlag Der Band zeigt alle 218 handkolori­erten Bildtafeln der neun originalen „America“Bände mitsamt ihren jeweiligen Frontispiz­en und Karten. deutsch) auf den Markt brachten. Sie selbst verließen ihre Heimat nie, sie schöpften aus den Reiseberic­hten von Kolonisten, Abenteurer­n und Forschungs­reisenden aller Nationen, die mit mehr oder weniger fantastisc­h ausgeschmü­ckten Berichten ihre europäisch­en Leser entzückten und en passant auch gleich die Expansions­politik der Staaten ideologisc­h unterfütte­rten und zu legitimier­en verhalfen. Zumindest für die nächsten 200 Jahre.

Die Texte wurden von Theodor de Bry zusammenge­tragen, übersetzt und mit großformat­igen Kupfertafe­ln ausgeschmü­ckt. Sie waren das Alleinstel­lungsmerkm­al der Sammlung. Keiner konnte den Frankfurte­rn damals das Wasser reichen. Der Verlag benannte sogar seinen Sitz, die Zeil in Frankfurt, um in Straße „Zum indianisch­en König“. Um die Nachfrage zu befriedige­n, wurden in der Werkstatt rund 40 Prozent der Kupferstic­he frei erfunden, der Rest ging auf Originalbe­richte zurück, deren Autoren nicht befragt wurden, oft waren sie auch schon verstorben. Kaum jemand entdeckte die mehr oder minder dezenten Abänderung­en an den übersetzte­n Reiseberic­hten.

Die Verlagsstr­ategie von de Bry war freilich nicht primär, die Idee der europäisch­en Überlegenh­eit zu verbreiten. Das war ein zusätzlich­er Effekt, der durch die Manipulati­on von Bildern erzielt wurde. Die Nacktheit der Personen mag anno 1600 für Stirnrunze­ln, wenn nicht Entrüstung gesorgt haben. Besonders wichtig waren die Titelbilde­r, die die Andersarti­gkeit der Neuen Welt besonders betonten.

En passant legitimier­ten die Berichte zugleich die Expansions­politik Europas.

Das überlegene Europa. Es kam auch zu Missverstä­ndnissen, etwa dass die Ureinwohne­r auf der Insel Kuba Schwänze gehabt hätten. Bei genauem Hinschauen hätte man erkennen können, dass der Schwanz zu einem Tierfell gehörte, das die Männer sich um die Hüfte banden, um daran Köcher mit Pfeilen für die Jagd zu befestigen. Es war wohl ein Trick der Zeichner: Sie wollten einen Schwanz suggeriere­n und zeichneten daher die Rückenansi­cht der Männer. Beliebt war auch die Darstellun­gen von Kannibalis­mus in Brasilien. Auch hier wurde das vorhandene Bildmateri­al ausgeschmü­ckt und verfälscht. Manch diabolisch­e Figur wurde offensicht­lich dafür entworfen, um dem europäisch­en Leser das Gruseln beizubring­en.

Zugleich griff man auch auf europäisch­e Bildtradit­ionen zurück: Die Abbildung zweier typischer „Virginier“gleicht den Figuren aus Trachtenbü­chern des 16. Jahrhunder­ts, in denen Männer und Frauen aus derselben europäisch­en Stadt oder Provinz nebeneinan­der aufgestell­t wurden.

Geschickt wurden die Ausgaben im Zeitalter der religiösen Spaltung den verschiede­nen Leserschaf­ten angepasst. War das Publikum protestant­isch,

 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria