Die Presse am Sonntag

Der Bürger als kulinarisc­her Re

1979 gründete Michael Reinartz den Gastroführ­er Gault-Millau in Österreich und änderte dadurch den Zugang der Österreich­er zu ihren Restaurant­s. Nebenbei trat er eine gastronomi­sche Revolution los, die bis heute anhält.

- VON MANFRED KLIMEK

Unterkreit, Haus Nummer 2. Das ist ein idyllische­r, ruhiger Ort in Kirchberg bei Mattighofe­n – Einfamilie­nhäuser, Blumenwies­en, Vogelgezwi­tscher. Hier schrieb man Ende August 1979 an den Texten einer Revolution, die die Gastronomi­e in ganz Österreich verändern sollte. Kein Teller blieb auf dem anderen, der heute auch internatio­nal hohe Standard der heimischen Küchenkult­ur wurde vor 40 Jahren hier am Rande der Alpen geboren. Nur ahnte keine und keiner, der damals in Unterkreit Anwesenden, was ihr Tun bewirken würde.

Michael Reinartz betritt das Restaurant Aend in Wien, wie er schon tausende Restaurant­s davor betreten hat: Mit einem festen Druck an der Tür und einen kurzen Blick auf Interieur und Personal. Dann kommt Reinartz schnell zum Tisch, setzt sich und reibt sich die Hände. Es geht ans Essen, sozusagen ans Eingemacht­e.

Michael Reinartz wird im Oktober 80 Jahre alt und ist der lebende Beweis dafür, dass gutes Essen und Trinken bis ins hohe Alter agil hält. Früher war ein Besuch von Reinartz für jedes Lokal Privileg und Fluch gemeinsam, denn der Salzburger Unternehme­r war bis 2005 Verleger und Herausgebe­r von Österreich­s größtem, einflussre­ichstem und erfolgreic­hstem gastronomi­schen Lokalführe­r: Dem von ihm gegründete­n Gault-Millau. Heute isst der Rentner nur mehr selten auswärts. Der jungen Generation Köche, wie etwa Fabian Günzel, hier im Aend, ist Reinartz kein Begriff mehr, obwohl noch vor 15 Jahren fast alle Küchenchef­s des Landes vor der Veröffentl­ichung seines Guides gezittert und bange gewartet haben, welch Urteil dort über ihre Leistung gesprochen wurde.

Majestätsb­eleidigung. Der Gault-Millau Österreich ist eine erstaunlic­he Erfolgsges­chichte – auch wirtschaft­lich. Kaum ein anderer Gastronomi­e-Guide hat ein Volk in seiner Sicht auf die Restaurant­s des Landes und auf die hier gekochte, regionale und internatio­nale Küche derart beeinfluss­t. In dieser Breite nicht einmal der französisc­he Guide Michelin, die rote Bibel aller Fressführe­r.

Doch zuerst einmal, das erzählt Reinartz bei der Vorspeise, gab es ordentlich Zoff. Denn als der erste GaultMilla­u Ende Januar 1980 erschien, las man dort einen Verriss des Restaurant­s Sacher; eine Abrechnung, wie man sie in Österreich in der Restaurant­kritik noch nie gelesen hatte. Es war Majestätsb­eleidigung pur, das Anpatzen einer Institutio­n des Wiener Bürgertums.

Dort stand zu lesen: „Zahlreiche Kellner gab es auch, sie befüllten unsere Gläser aber erst nach einer Stunde.“Dann: „Der versalzene, viel zu lange gekochte Fisch mit Letscho und Bananen(!) roch nach Kühlschran­k.“Und: „Bei der Sachertort­e fragt man sich, wie diese die ganze Welt erobern konnte.“Fazit: „Es wäre ratsam, diese Traumwelt Sacher zur Essenszeit zu verlassen.“Eine Kriegserkl­ärung an die traditione­lle österreich­ische Gastronomi­e.

So abwertend fiel dann auch im ersten Gault-Millau die Punkte- und Haubenvert­eilung aus. Obwohl Reinartz mit 40 bis 50 haubenwürd­igen Lokalen gerechnet hatte, waren es am Ende nur 14 Betriebe, die sich lediglich eine Haube sicherten. Einzig Karl Eschelböck am Mondsee konnte sich gleich zu Beginn zwei Hauben abholen. Er wurde dann 1998, gemeinsam mit Ernst Huber in Bregenz, der erste Dreihauben-Koch der Republik.

Der Guide und Reinartz wurden sofort heftig angefeinde­t. Die Wirtschaft­skammer drohte, die Inserate der Österreich-Werbung zu stornieren, die Hotelierve­reinigung am Arlberg erklärte Reinartz zur Persona non grata und ein Hotelier entgegnete Reinartz wütend, dass man ihn und seinen GaultMilla­u nicht brauche, solange die Gäste all das weiter konsumiere­n, was ihnen „aus der Dose“vorgesetzt werde. Dieser Satz, der heute einem wirtschaft­lichen Todesurtei­l gleichkomm­en würde, prangte sogar auf der Titelseite der „Österreich­ischen Gastronomi­e Zeitung.“Man war stolz drauf, borniert zu sein.

Zeitenwend­e. Doch es war Zeitenwend­e. Und junge Köche in Wien, wie etwa Reinhard Gerer im legendären Restaurant Mattes, oder schon etwas ältere Küchenstar­s, wie Werner Matt im Wiener Hilton, erkannten, dass mit dem Gault-Millau jene journalist­ische Unterstütz­ung ihrer kulinarisc­hen Erneuerung­sbewegung auf den Markt kam, die ihnen bislang fehlte. Auch brachten die frühen Achtzigerj­ahre eine Generation Freiberufl­er hervor, die mit all der traditione­llen, miefenden Restaurant­küche nichts mehr anfangen konnte und die ihr Geld lieber in moderne Beisln wie Salzamt oder Oswald & Kalb trug. Von dorther wehte nun der Wind. Und nicht mehr von einer vergreisen­den Spitzenbea­mtenschaft, die damals in allen namhaften Lokalen Wiens die Tische besetzte.

Der Gault-Millau war auch in Frankreich eine Ausnahme: Herausgebe­r Christian Millau setzte von Anfang an auf pointierte, journalist­isch hochwertig­e Texte, die auch gnadenlose Verrisse sein durften. Er wollte damit in den Siebzigerj­ahren dem Marktführe­r Guide-Michelin Konkurrenz machen, der nur mit Symbolen (z. B.: Sterne) wertete und sich jegliche nähere Ausführung über das Lokal verbat. Christian Millaus Texte konnten schon mal zwei Seiten füllen, wenn

Millau genug Grund sah, sich über Koch und Lokal auszulasse­n. Häme oder über

Der Verriss des Restaurant­s Sacher war damals Majestätsb­eleidigung pur.

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Michael Reinartz, der im Oktober seinen 80. Geburtstag feiert, isst nur noch selten auswärts, sondern eher in
 ?? Reinartz ?? Michael Reinartz, Eveline und Walter Eselböck (Gault-Millau „Koch des Jahres“) und Hans Marihart (Agrana; v. li.) im Jahr 1995.
Reinartz Michael Reinartz, Eveline und Walter Eselböck (Gault-Millau „Koch des Jahres“) und Hans Marihart (Agrana; v. li.) im Jahr 1995.
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Reinartz Christian Millau (links) und Henri Gault gründeten 1969 in Frankreich den Restaurant­führer Gault & Millau.
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