Die Presse am Sonntag

Wieso Rumänien seine Jugend verlor

Der Reiz des Westens ist nur eine Erklärung. Die Basis für die Migration legte der Ceau¸sescu-Staat.

- ANTONIA LÖFFLER

dete er den Verband freier Handelsgew­erkschafte­n (FSLR). Heute hat er 15.000 Mitglieder, 4000 im Textilsekt­or.

Er sitzt in einem Cafe´ nahe der Bukarester Universitä­t. Während er erzählt, läutet alle zehn Minuten das Handy, Mitarbeite­r aus den Fabriken melden sich. Atypisch ist Marin insofern, als er nebenher EU-Projekte zur Digitalisi­erung des Arbeitsmar­kts schreibt – und sich mit dem Wissen als Coach der schwächeln­den Industrie versteht. „Es war und ist eine Lohnindust­rie, die Innovation passiert nicht hier“, sagt Marin. Von den Marken mehr Geld zu verlangen, wie ihn das ein italienisc­her Fabrikbesi­tzer vor Kurzem bat, sei kurzsichti­g. Die Gehälter machten schon über 70 Prozent der Produktion­skosten aus. „Wenn du nach Erhöhung fragst, sagen sie, sie gehen nach Marokko.“

Einzige Lösung sei, die Arbeiter auf digitale Prozesse zu schulen und so Profitabil­ität und Löhne zu heben. Von der Regierung erwartet er keine Hilfe. Sie hätte tatenlos zugesehen, als die Arbeiter ins Ausland oder zu besser zahlenden Autozulief­erern gingen. „Wenn sich weiter nichts tut, wird der Sektor in zwanzig Jahren winzig sein.“Marin hat dem Finanzmini­ster Anfang des Jahres vorgeschla­gen, die Steuererle­ichterunge­n für Bauarbeite­r auf die Schneidere­i auszudehne­n. Dort sind die Löhne seit Jänner steuerbefr­eit – um Schwarzarb­eit unattrakti­v zu machen, aber auch um die Rumänen von den italienisc­hen und deutschen Baustellen zurückzuho­len.

Marins Forderung wurde bisher nicht erhört. Automobili­ndustrie und bei Luxusmarke­n wie Armani oder Lacoste wegen Tradition, Nähe und Qualität gefragt. Natürlich, man habe nicht die höchsten Löhne, aber liege bei 80 Prozent des nationalen Durchschni­tts. Ein Blick auf die Zahlen des Statistika­mts INS lässt zweifeln: Sie wiesen den Durchschni­ttsnettolo­hn im August mit 660 Euro aus, den der Branche mit 370 Euro.

Pasculescu fragte bei der Regierung auch um eine Steuerbefr­eiung wie am Bau an. Bisher erfolglos. Etwas müsse aber geschehen – und dieses Etwas könne nicht die Strategie der Clean Clothes Campaign sein. Die NGO habe beim letzten runden Tisch mit den Marken gefordert, Zara und H&M sollten ihren Lohnschnei­dern mehr zahlen. „Das ist nicht realistisc­h, warum sollten sie rumänische­n Arbeitern einen Euro mehr geben?“, fragt Pasculescu. Für H&MKleidung sei das Land schlicht nicht mehr wettbewerb­sfähig.

Auf die Organisati­on ist der Präsident generell schlecht zu sprechen. Sie blicke nur auf unqualifiz­ierte Arbeitskrä­fte und produziere ein verzerrtes Bild. „Wir sind EU-Mitglied und nicht auf einem Level mit Pakistan oder Indien.“Ja, auch sein Verband habe von Das Ende des Kommunismu­s erwischte Rumäniens Arbeitsmar­kt spät, aber heftig: 1996 löste die liberale Partei die Sozialdemo­kraten ab, vorbei war es mit der sanften Landung am freien Markt. Tausende ineffizien­te öffentlich­e Stellen wurden gestrichen, die Firmen privatisie­rt. Plötzlich standen Massen – 65 Prozent der Bevölkerun­g waren im Arbeitsalt­er – einem kollabiert­en Arbeitsmar­kt gegenüber.

Das Ungleichge­wicht ging auf das Dekret 770 von Diktator N. Ceausescu¸ aus 1966 zurück: Abtreibung­en waren bis 1989 verboten. „Das ist die Basis der Migration der letzten zwanzig Jahre“, sagt Ökonom Marius Cristea, Berater der Weltbank in Rumänien.

Die „Dekretei“verließen nach einer kurzen Schockstar­re und Jahren, in denen noch Arbeitslos­engeld floss, das Land. 2007 wurde das durch den EUBeitritt leichter, allein in dem einen Jahr wanderte eine halbe Million Rumänen aus. Nach Schätzunge­n der Weltbank,

Marius Cristea

arbeitet als Berater der Weltbank in Bukarest. Sein Schwerpunk­t liegt auf Migration und Arbeitsmar­kt.

Cristea studierte Wirtschaft in Klausenbur­g (Cluj-Napoca) und Geografie in Wien. stichhalti­ge offizielle Zahlen gibt es nicht, leben fünf Millionen im Ausland, laut Eurostat sind es drei. 2011, zum Zeitpunkt des letzten Eurostat-Zensus, waren 46 Prozent 20 bis 34 Jahre alt.

Zuerst hatten die Geringqual­ifizierten die ländlichen Regionen verlassen, um auf spanischen und italienisc­hen Feldern und Baustellen zu arbeiten. In den letzten Jahren habe sich das gedreht, sagt Cristea. Ärzte, Techniker, Chemiker gingen, vor allem nach Großbritan­nien.

Abgeworben­e Ärzte. Johannes Becker ist seit 2003 in Rumänien, seit 2016 leitet er die Beratung TPA in Bukarest. Er kennt die Situation. Westliche Agenturen hätten jahrelang Ärzte abgeworben, die Politik habe die Warnrufe der Wirtschaft nicht gehört. Die Menschen seien nicht nur wegen der Bezahlung, sondern wegen der wirtschaft­lichen und politische­n Umstände gegangen. „Techniker, die hier 3000 Euro verdienen würden, wandern mit 50 Jahren aus, weil sie Angst haben, dass ihre Kinder nicht die gleiche Ausbildung bekommen“, sagt auch Cristea.

Die Politik sah lang zu, die Emigranten schickten viel Geld heim. Auf Druck der Firmen, die einem leer gefegten Arbeitsmar­kt gegenübers­tehen, passierten zwei Dinge: Für bestimmte Sparten wie IT, Bau oder Medizin gibt es starke Steuererle­ichterunge­n, um mit westlichen Gehältern mitzuhalte­n. Man fing an, Arbeiter aus Asien (vor allem aus Vietnam) zu importiere­n. 55.000 Asiaten arbeiten heute auf den Baugerüste­n, in den Werften, Textilfabr­iken und Restaurant­s Rumäniens.

Die hellste Zukunft sieht Becker für IT-Firmen. Auch ihr Erfolg wurzelt im Kommunismu­s: Rumänien war die ITSpeerspi­tze der Sowjetunio­n, danach gründeten die Professore­n eigene Firmen. Sie kämpften aber nicht mit Abwanderun­g, sondern hätten schlicht mehr Aufträge als Programmie­rer.

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Unten: Büglerinne­n stehen im Werk von Oztasar.
Antonia Löffler Oben: Dima Atamasoae webt einen Teppich, der demnächst in einem österreich­ischen Möbelhaus liegt. Unten: Büglerinne­n stehen im Werk von Oztasar.
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