Die Presse am Sonntag

»Verlieren die Fähigkeit, allein zu sein«

Autorin Ursula Wagner plädiert für bewusste Zeit allein, die sie als wohltuend empfindet.

- MIRJAM MARITS

Wieso sollten sich Menschen Zeit für sich selbst nehmen?

Ursula Wagner: Ich vergleiche das gern mit einem Glas Wasser, in dem sich unten Schlamm befindet. Den ganzen Tag wird das Glas durchgesch­üttelt mit ganz vielen Eindrücken, das Wasser wird trübe. Erst wenn wir allein sind, setzt sich der Schlamm, und das Wasser wird klar. Man bekommt Einblick, was wichtig ist, und wird sich seiner Werte, seiner selbst viel mehr bewusst.

Sind wir heute zu wenig allein? Tatsächlic­h sind wir auch durch die sozialen Netzwerke heute wesentlich mehr in Kontakt, wir werden viel häufiger in unseren Gedanken unterbroch­en. Ich finde es wunderschö­n, dank des Internets mit Freunden weltweit verbunden zu sein. Aber wir müssen aufpassen: Durch die permanente Social-Media-Flut verlieren wir unsere Fähigkeit, uns zu konzentrie­ren und mit uns allein zu sein. Wieso fällt es manchen Leuten leichter, anderen schwerer, allein zu sein?

Menschen, die nicht selbst erlebt haben, wie wohltuend das Alleinsein sein kann, empfinden es oft als Defizit. Es hängt aber sicher auch mit der sozialen Erwartung zusammen. In ein Kaffeehaus geht man eher allein, weil dort viele Menschen allein sind, etwa um zu lesen. Ein Restaurant­besuch oder ein Urlaub allein kann herausford­ernder sein, weil sozial erwartet wird, dass man das nicht allein unternimmt. Da fühlen wir uns schnell einsam. Dann ist es auch eine Frage der Persönlich­keit. Introverti­erte Menschen haben ein stärkeres Bedürfnis danach als extroverti­erte.

In Ihrem Buch finden sich Übungen, wie man das Alleinsein lernen kann. Kann man sich das tatsächlic­h aneignen?

Man muss ja nicht gleich allein auf Urlaub fahren. Aber vielleicht einen Spaziergan­g machen oder sein Strickzeug

Ursula Wagner,

Inhaberin des Coaching-Centers Berlin, ist Ausbilderi­n von Coaches und Karriereco­ach.

»Die Kunst des Alleinsein­s«

(Theseus-Verlag) war 2005 eines der ersten Sachbücher zum Thema Alleinsein und wurde mehrfach aufgelegt. auspacken und dabei seinen eigenen Gedanken zuhören statt sich mit anderen zu unterhalte­n. Es ist aber wichtig, zwischen Alleinsein und Einsamkeit zu unterschei­den. Einsamkeit ist das Gefühl, sich nicht mit seiner Umwelt verbunden zu fühlen. Das ist nichts Positives. Menschen, die sich einsam fühlen, sollten versuchen, mit anderen in Kontakt zu kommen – etwa, indem sie sich in einem Hobby oder karitativ engagieren. Das tut einem selbst auch gut, man fühlt sich selbst weniger bedürftig.

Ist das bewusste Alleinsein gesellscha­ftlich zu wenig akzeptiert?

Auf jeden Fall. Vernetzt zu sein ist ein Ideal. Sagt jemand etwa ein Treffen mit der Begründung ab, er wäre lieber allein, wird das oft negativ aufgenomme­n. Weil sich etwa auch depressive Menschen zurückzieh­en. Da muss man auch differenzi­eren. Man darf Alleinsein nicht generell glorifizie­ren.

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