»Offenbar mit einer Glückshaube geboren«
Der Grazer Anglist Franz Karl Stanzel, seit 1993 Emeritus, blickt zurück. Auf den totalen Umbruch der Werte in den 1930er-Jahren. Wie er 1942 auf einem U-Boot der deutschen Wehrmacht beinahe starb. Und was er danach an der Kriegsgefangenschaft in Kanada s
Sie beschäftigen sich seit 75 Jahren mit Literatur. Als Professor für Anglistik haben Sie seit den 1950er-Jahren die Erzähltheorie geprägt. Wie viele Romane haben Sie in Ihrem langen Gelehrtenleben gelesen?
Franz Karl Stanzel: Meine Antwort wird Sie bestimmt enttäuschen. Ich habe gar nicht so viele gelesen, mehrfach aber die Werke, die mich wirklich interessierten – zum Beispiel „Tristram Shandy“von Laurence Sterne oder „Tom Jones“von Henry Fielding. Die Romane der Viktorianer gehören auch dazu. Ich habe sie immer wieder von einem anderen Gesichtspunkt aus studiert. Eine meiner Vorlesungen, die ich viele Jahre lang gehalten habe, sollte einen Überblick über die Geschichte des englischen Romans verschaffen. Dabei änderte sich aber jedes Mal der thematische und kritische Fokus der Betrachtung. Ein besonderes Buch ist für mich der Roman „Ulysses“von James Joyce geworden. Den habe ich mir mit wechselnder Blickrichtung sicher ein halbes Dutzend Mal vorgenommen. Er fordert immer wieder neu heraus.
Als Sie 1923 auf die Welt kamen, war der „Ulysses“eben erst veröffentlicht worden. 1922. Und wurde sogleich verboten, während ich offenbar, wie David Copperfield bei Charles Dickens, mit einer Glückshaube geboren wurde, was mich mehrfach vor dem Ertrinkungstod bewahrt hat. Das Verbot des „Ulysses“dauerte in den USA bis 1933, in England noch viel länger, am längsten in Irland, der Heimat des Autors. Heute sind die Schauplätze seiner Werke Hauptattraktionen für literarisch interessierte Touristen in Dublin, vor allem Amerikaner. Sie waren es auch, die früh die Popularisierung des Bloomsday – der Roman spielt am 16. Juni 1904 – betrieben. „Ulysses“beschäftigt die internationale Literaturkritik noch immer, wie es sein Autor vorausgesagt hatte: „It will keep the professors busy for hundred years.“
Wie kam es, dass Sie Literaturwissenschaftler wurden? War das Ihr Lebensplan?
In meinem Leben ist nie etwas nach Plan abgelaufen, die Zeitumstände – Wirtschaftskrise, Putschversuche 1934, Hitler, Krieg, Gefangenschaft – bestimmten die ersten 20 Jahre. Es war für meine Eltern sehr schwierig, mir und meinen beiden Geschwistern eine höhere Bildung angedeihen zu lassen. Die nächsten Gymnasien waren in Kremsmünster und Steyr. Es gab dort aber keine Schülerheime neben den von geistlichen Orden geführten Konvikten, die sehr teuer waren. Schließlich fand sich doch ein ermäßigter Kostplatz für mich bei den Franziskanern in Steyr. Doch die Reise zur Aufnahmeprüfung konnten sich meine Eltern – mein Vater war 1933 gekündigt worden – nicht leisten. Auf Anraten des Oberlehrers meiner Leonsteiner Volksschule gab man mich daher in die Hauptschule des Konvikts, von wo ich mit einem Vorzugszeugnis ohne Prüfung in die zweite Klasse Gymnasium wechseln konnte. Das Gymnasium verließ ich dann – spiegelsymmetrisch – ohne die obligate Matura. Nachdem ich 1940 zur Kriegsmarine eingerückt war, erhielt ich ein Abgangszeugnis mit der Reifeklausel.
Warum haben Sie sich 1940, mit 16 Jahren, zur deutschen Kriegsmarine gemeldet?
Ich wollte zur See fahren, ohne das Meer auch nur einmal gesehen zu haben. In Wirklichkeit war dieser spätpubertäre Wunsch ein Flucht- oder Absetzakt. Ich wollte weg aus einer Schule, die durch die Ereignisse von 1938 arg ramponiert war, und ich wollte auch verhindern, zum Heer eingezo
Am 4. August 1923
wurde Franz Karl Stanzel in Molln (Oberösterreich) geboren. Der Anglist ist vor allem durch seine Arbeiten zur Erzähltheorie weithin bekannt geworden. 1955 habilitierte er in Graz für englische Philologie mit „Die typischen Erzählsituationen im Roman“. 1957 Dozent in Göttingen, 1959 ordentlicher Professor für Anglistik in Erlangen, 1962 in
Graz, wo er 1993 emeritiert wurde.
Veröffentlichungen
Seit den 1950erJahren hat Stanzel kontinuierlich publiziert. Eben erst erschien „James Joyce in Kakanien 1904–1915“. Vor vier Jahren lieferte er quasi eine Summa seiner Narratologie: „Die typischen Erzählsituationen 1955–2015“. Zum Klassiker wurde die „Theorie des Erzählens“(1979). „Europäer“(1997/98) ist ein imagologischer Essay. Biografisches erfährt man von Stanzel in „Verlust einer Jugend“(2013). gen zu werden – das Schicksal fast aller meiner Klassenkollegen, von denen dann viele aus Russland nie mehr zurückgekehrt sind. Alle haben sich damals über mich gewundert, über diesen braven, unauffälligen, angepassten Buben. Ich hatte allerdings zuvor schon einen totalen Umbruch vertrauter Werte zu bewältigen.
Welche meinen Sie?
Bis zum Anschluss 1938 war ich als Zögling des streng katholischen Franziskaner-Konvikts ein loyaler Anhänger der Ständestaat-Regierungen von Dollfuß und Schuschnigg. Das brachte mir auch ein nächtliches Verhör durch einen SS-Mann zwei Tage nach der Annexion Österreichs durch Hitler ein. Dann wurde aus mir, wie aus allen meinen Mitschülern, ein Hitlerjunge. Im Oktober 1940 wurde ich zur Kriegsmarine nach Stralsund einberufen und nach Durchlaufen der seemännischen Ausbildung zur U-Boot-Waffe abkommandiert. Keiner von uns ahnte damals, dass die Chancen, diesen Krieg zu überleben, bei den U-Booten rein statistisch die schlechtesten von allen Waffengattungen der deutschen Wehrmacht waren, nämlich eins zu drei.
Galt das auch für Ihr Boot?
Auch auf meinem Boot, U 331, wo ich dritter Wachoffizier war, kamen 32 von 49 Mann der Besatzung bei der Torpedierung am 17. November 1942 durch britische Bomber im Mittelmeer ums Leben. Es war ein britischer Flugbootpilot, der die Überlebenden Stunden später aus dem Wasser fischte und in Algier an Land brachte. Welches Glück es war, den Rest des Krieges als britischer Kriegsgefangener zu verbringen, ist mir erst sehr viel später aufgegangen. Die ersten Tage und Wochen machte mir allerdings noch sehr zu schaffen, die traumatische Erfahrung zu verarbeiten, stundenlang dem mörderischen MG-Feuer der HudsonBomber ohne jede Deckung an Bord des Bootes ausgesetzt gewesen zu sein. Selbst der britische Hudson-Pilot, der das Boot manövrierunfähig gebombt hatte, bezeichnete die fortgesetzte Beschießung des wehrlos gewordenen Bootes als „cold-blooded murder“.
Erzählen Sie von der Kriegsgefangenschaft. Wir wurden durchwegs sehr korrekt nach Genfer Konvention für Land- und Seekriegsrecht von1929 behandelt. Aus Furcht vor einer deutschen Landung auf der Insel wurden ab 1941 alle Kriegsgefangenen nach Kanada gebracht, wodurch sich die Bedingungen des Lagerlebens für uns noch verbesserten. Es gab ein intensives Bildungsprogramm, vor allem Sprachkurse, aber auch Vorträge über Geschichte, Philosophie und so weiter. Ich lernte neben Englisch, Französisch und Italienisch auch Japanisch. Camp 44, Grande Ligne, Quebec,´ war ein Offizierslager mit guter Bücherei und einem Orchester, das Beethoven spielte. Nur ein kleiner Teil der Gefangenen widmete sich dem Graben eines „Ausbruchstunnels“. Meine vier Jahre in der Gefangenschaft betrachte ich rückschauend als eine Zeit der Rekultivierung nach den zwei Jahren des Militärdienstes. Als ich nach meiner Repatriierung 1947 in Graz mein Studium der Anglistik, Germanistik und Vergleichenden Sprachwissenschaft begann, brachte ich viel bessere Voraussetzungen dafür mit als jene Kommilitonen, die aus der Kriegsgefangenschaft in Sibirien oder sonst wo heimkehrten.
Was lasen Sie damals in Kanada?
Es gab in der Lagerbibliothek unter anderem kritische Ausgaben von Shakespeares Dramen. Die Lektüre der Kommentare zum Stück in diesen Büchern . . . was Sie am fortschreitenden Alter besonders stört?
Es ist sehr bedauerlich, dass mein Kurzzeitgedächtnis nachlässt und dass häufig Wörter, Namen oder Begriffe nicht abrufbar sind, obwohl sie mir eben noch präsent waren.
. . . ob es Bereiche in
Ihrem Studium gab, die Ihnen zu fad waren?
Es war vor allem das Überangebot an Lautgeschichte, zum Beispiel vier Stunden wöchentlich ein volles Semester lang über die Entwicklung des deutschen Konsonantismus.
... wie Ihre Vorlesungen entstanden sind?
Immer am Schreibtisch, wo ich meine Unterlagen, Bücher und Notizen griffbereit hatte. Mir ist es nie recht gelungen, mit einem Diktiergerät zu arbeiten, zu dem mir mein Kollege Wolfgang Iser einst riet. Anfangs war es gar nicht leicht für mich, jede Woche am Montag, am Mittwoch und am Freitag ein Manuskript für eine einstündige Vorlesung fertig zu haben. kann man faktisch mit einem Proseminar vergleichen. Daneben las ich viel deutsche und englische Literatur, aber auch Historisches und Philosophisches. Ich konnte daher von der den Kriegsheimkehrern gewährten Studienzeit-Verkürzung vollen Gebrauch machen und schon 1950 mit einer Dissertation über „Das Amerikabild Thomas Wolfes, 1900–1938“promovieren. Daraufhin bot mir Professor Herbert Koziol eine Assistentenstelle an, am Seminar für Englische Philologie der Universität Graz, wie sich das Institut für Anglistik damals nannte. Ein Fulbright-Stipendium für ein Jahr in Harvard öffnete mir dann eine ganz andere Welt und verhalf mir buchstäblich zu einer intellektuellen Wiedergeburt. Neben Vorlesungen über amerikanische Literatur hörte ich Harry Levins „Comparative Literature“-Vorlesung, die mir eine erste Begegnung mit Joyce vermittelte. Ebenso trug ein Seminar zu William Faulkner reiche Früchte für meine spätere Laufbahn mit narratologischem Schwerpunkt.
Wie ist es Ihnen als junger Forscher mit Ihren Arbeiten ergangen?
Bei der Präsentation meiner Habilitationsschrift „Die typischen Erzählsituationen im Roman“1955 meinte ein älterer Professor, das habe wenig mit Literatur zu tun. Die strukturalistisch angelegte Arbeit war für ältere, noch ganz dem Positivismus verschriebene Professoren zu formalistisch. Zwei Dutzend Jahre später war meine Theorie des Erzählens schon in acht, in Kurzfassung sogar in zwölf Auflagen und in mehreren Übersetzungen erschienen. Das darin dargebotene Schema hat das stehende Beiwort „Stanzels berühmtberüchtigter Typenkreis“erhalten und findet wohl auch in vielen Einführungen in die Literaturwissenschaft noch immer Erwähnung.