Warum Nichtwählen ansteckend ist
Wählen ist mehr Gewohnheit als ein rationaler Akt. Ob man wählt oder nicht, hängt vor allem vom sozialen Umfeld ab: Partner, Eltern, aber auch die Nachbarn spielen eine Rolle. Denn auch der Wohnort beeinflusst die Wahlbeteiligung.
Klimademos, Brandreden und Debatten über die CO2-Steuer: In den vergangenen Wochen und Monaten waren die Medien voll mit Bildern von engagierten Teenagern. Man konnte den Eindruck gewinnen: So politisch wie jetzt waren junge Menschen schon lange nicht.
In den Gängen seiner Schule hört und sieht Karl Pleyl jedoch andere Szenen. Pleyl ist Lehrer an der HAK/HAS des Berufsförderungsinstituts (BFI) in Wien-Margareten. 80 bis 90 Prozent der Schüler haben hier Migrationshintergrund. Und viele von ihnen werden, vermutet er, heute, Sonntag, nicht wählen gehen. Obwohl sie könnten.
Warum? Pleyl überlegt. Da gebe es zum einen die schlechten Erfahrungen der Eltern mit Politik in den Herkunftsländern – sei es nun Krieg oder Korruption. „Da bekommt man von daheim die Botschaft mit: Politik bringt nur Unglück, halt dich fern.“Wenn dann auch noch so etwas wie das Ibiza-Video passiere, fühle man sich bestätigt. Zum anderen, sagt Pleyl, fühlen sich auch die Jugendlichen von den Parteien abgewertet: „Islam, Migration – dazu gibt es im Wahlkampf nur ablehnende Signale.“
Jung und stumm. Pleyls Bauchgefühl lässt sich auch wissenschaftlich fassen. Zum einen sind es – Fridays-for-Future-Proteste hin oder her – laut Politologen und Meinungsforscher Peter Hajek immer noch die Jungen (in der Statistik: die Unterdreißigjährigen), die mit Abstand am seltensten wählen. Vor allem, wenn folgende Kombination vorliegt: „Wenn Sie jung sind, aus einer Arbeiterfamilie kommen und Migrationshintergrund haben, dann liegt die Wahrscheinlichkeit, dass Sie wählen gehen, zirka bei null Prozent“, sagt Julia Partheymüller, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Vienna Center for Electoral Research. Und das Risiko sei hoch, dass es auch später dabei bleibe: „Wir Forscher sagen immer: Voting is a Habit. So wie Rauchen. Wenn Sie nicht früh damit anfangen, dann machen Sie es nie.“Deswegen sei die erste Wahl auch so wichtig.
Was aber ist es genau, was jemanden zum Nichtwähler macht? Natürlich ist Bildung ein Faktor. Aber auch in Finnland mit seinem egalitären Schulsystem sind nur zehn Prozent der oben beschriebenen Gruppe wählen gegangen, rechnet Partheymüller vor. Insofern: Bildung allein macht es nicht aus. Auch nicht die ökonomische Situation.
Vielmehr – da sind sich die Forscher recht einig – geht es um das Soziale. Vor allem um das engste soziale Umfeld: „Das hat einen unglaublich starken Einfluss“, sagt Partheymüller.
Am stärksten prägt der Partner. Geht er oder sie nicht wählen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich auch der andere der Stimme enthält. Bei Erstwählern sind die Eltern der wichtigste Faktor. Dürfen oder wollen sie nicht wählen, „vererbt“sich das Verhalten. Vernachlässigbar dagegen ist das Gewicht von medial vermittelter prominenter Meinungen. Ob die Nationalratspräsidenten zum Wählen aufrufen oder ein Schlagerstar öffentlich rätselt, ob er seine Stimme abgeben soll – „das verpufft“, so die Forscherin.
Sehr wohl relevant ist dafür etwas anderes: die Wohnadresse. Denn es sind nicht nur Familie und enge Freunde, die das Wahlverhalten beeinflussen, sondern auch die Nachbarn, das gesamte soziale Umfeld. Bekannt ist bereits, dass in großen Städten die Wahlbeteiligung niedriger ist als in ländlicheren Regionen. Das hat mit der nachlassenden sozialen Kontrolle (wer war wann im Wahllokal?) zu tun. Aber es gibt noch komplexere Wechselwirkungen. „Man weiß, dass es in Gegenden mit hohen Arbeitslosenraten eine niedrige Wahlbeteiligung gibt und zwar eben nicht nur unter den Arbeitslosen“, sagt Jeremias Stadlmair, Politikwissenschaftler an der Universität Wien. Nichtwählen ist also quasi räumlich ansteckend. Beobachten könne man das etwa im 15. Bezirk oder im 11. Bezirk bei der EU-Wahl.
Stadlmair selbst erforscht gerade, ob dieses Prinzip auch für Grätzel gilt, in denen viele Menschen leben, die nicht wählen dürfen. „Die Frage ist: Gehen dann die anderen, die wählen dürften, auch nicht?“Studien aus Deutschland weisen zumindest darauf hin. Wie das „Anstecken“genau funktioniert, wisse man zwar nicht, sagt er, aber klar sei: „Nichtwählen ist so wie Wählen ein sozialer Akt, etwas Gelerntes. Es ist nicht rational. Wenn wir nur unser eigenes ökonomisches Interesse im Auge hätten, würden wir es gar nicht tun.“
Elitäre Verweigerer. Apropos rational: Natürlich gibt es auch sehr rationale Nichtwähler. In der Wahlforschung taucht die Gruppe der „jungen Besserverdiener“auf. Werner T. Bauer von der Österreichischen Gesellschaft für Politikberatung und Politikentwicklung beschreibt sie als gut gebildete Menschen, die im neoliberalen Glauben aufgewachsen seien, dass die Wirtschaft mächtig und die Politik ohnmächtig sei. So sehen sie im Wählen kaum Sinn. Bauer schätzt, dass sie etwa zehn Prozent der Nichtwähler ausmachen.
Statistisch unauffällig sind dagegen die – nennen wir sie – „elitären Nichtwähler“: Vor der deutschen Bundestagswahl 2013 meldeten sich mehrere von ihnen zu Wort. Der Sozialpsychologe Harald Welzer verfasste für den „Spiegel“ein Plädoyer gegen den Zwang zum „kleineren Übel“. NeinDanke-Bekenntnisse der Philosophen Peter Sloterdijk und Richard David Precht folgten, das Kernargument blieb gleich. Wenn das politische Angebot nicht überzeugt, dann lieber gar nicht. Für Partheymüller hat dies vor allem mit der Krise der SPD zu tun, denn: „Den Wunsch nach der reinen Gesinnung gibt es eher nur unter den Linken. Im rechten intellektuellen Spektrum ist man pragmatischer.“
Im Zweifel radikal. Links, rechts? Wem würden die Stimmen der Nichtwähler eigentlich nützen bzw. wem fehlen sie? Schwer zu sagen, meint Hajek. Wer mobilisiert werden könne, hänge vor allem von Verlauf und „Momentum“des Wahlkampfs ab.
2017 konnte vor allem Peter Pilz aus dem Nichtwählerlager Stimmen gewinnen. Für Werner T. Bauer ein typischer Fall. Als Politikverdrossene würden Nichtwähler zu neuen, radikaleren Parteien und zu Protestbewegungen tendieren. Wie mobilisierbar Nichtwähler überhaupt sind, darüber gehen die Meinungen auseinander. Während Partheymüller glaubt, dass die größte Gruppe „verfestigte Nichtwähler“seien, die gar nicht mehr wählen gehen, hält Bauer die Mehrheit für situative Nichtwähler. Wird es spannend, wählen sie wieder.
Wie man sie motiviert? Eher nicht mit den omnipräsenten TV-Debatten. Infotainment kann zwar besonders gut jene motivieren, die sich sonst wenig für Politik interessieren. Das hat sich etwa bei der EU-Wahl gezeigt. Aber wenn das Interesse ganz fehlt, versagt die Methode. Wobei: Eine wichtige Maßnahme habe Österreich ohnehin bereits ergriffen, so Partheymüller: die Senkung des Wahlalters. US-Studien zufolge steigert Wählen mit 16 nämlich vermutlich die Wahlbeteiligung.
Darüber hinaus wären laut der Forscherin Informationsveranstaltungen an Brennpunktschulen sinnvoll: „Man muss es halt so rüberbringen, dass man die Jugendlichen auch anspricht.“Genau darum bemüht sich die HAK/HAS des BFI, an der Pleyl unterrichtet. In Wahlzeiten stellen sich diverse Experten den Fragen der Schülern. Wichtig seien aber echte Vorbilder, sagt der Lehrer – und die kann er nicht herbeizaubern. „Bei den größeren Parteien gibt es auf den vorderen Plätzen auch diesmal kaum Kandidaten mit Migrationshintergrund.“
Trotz Freitagsklimademos: Der typische Nichtwähler ist noch immer jung.