Manchester Disunited
Der britische Premier Johnson schwört die zerstrittenen Tories auf dem Parteitag in Manchester auf den nächsten Wahlkampf ein. Das Motto seines Notprogramms: »Das Volk gegen das Parlament«.
Er werde – gegen jede Konvention – die Parteitage der Oppositionsparteien „ruinieren“, verkündete Dominic Cummings vollmundig. Die Mitarbeiter in der Downing Street peitschte der Chefberater des britischen Premierministers, Boris Johnson, mit Sätzen wie diesen ein: „Wir geben hier nicht viel auf Konventionen.“Es sollte anders kommen. Nachdem das Parlament einen Antrag der konservativen Regierung auf Sitzungsunterbrechung abgelehnt hat, müssen nun ausgerechnet die Tories ihren heute in Manchester beginnenden Parteitag mit einem Notprogramm durchziehen.
Es ist das erste Mal seit mehr als 80 Jahren, dass sich die Parteien nicht auf ein Stillhalteabkommen einigen konnten. „Warum sollen wir es dem Premierminister erlauben, sich erneut vor seiner Rechenschaftspflicht zu drücken?“, erklärte Labour-Chef Jeremy Corbyn. „Dass dieses Zombieparlament so entschieden hat, spricht für sich selbst“, erwiderte das Umfeld von Johnson. Man werde den Parteitag dennoch wie geplant über die Bühne gehen lassen. Es wurde aber erwartet, dass die heutige Eröffnungsrede Johnsons seine für Mittwoch angesetzte Grundsatzerklärung mehr oder weniger vorwegnehmen wird.
Die umgehende Schuldzuweisung an das Parlament entspricht dem Kurs Johnsons. Nachdem das Höchstgericht die Zwangsbeurlaubung des Parlaments aufgehoben hatte, verschärfte er noch die Konfrontation. Berichte von Abgeordneten über Morddrohungen wischte er als „größten Unsinn, den ich jemals gehört habe“vom Tisch. Selbst wenn Johnson mit der EU eine Einigung erzielt, wird er sie kaum im Parlament durchbringen. Aus Brüssel heißt es wiederum, man warte immer noch auf belastbare Vorschläge aus London.
Mögliche Ermittlung gegen Johnson. So zeigt sich, dass der Premierminister längst ein anderes Ziel vor Augen hat: Seine Strategie zielt auf Neuwahlen ab, in denen er sich als der Vollstrecker des Volkswillens darstellen kann, während die liberalen Eliten im Parlament, in den Medien, in den Gerichten – das „Establishment“– drei Jahre nach der Volksabstimmung immer noch den Brexit verhindern. „Dieses Haus ist davon besessen, den Willen der Wähler zu sabotieren“, sagte er im Unterhaus. In einer Wahl unter der Parole „Das Volk gegen das Parlament“will er die BrexitWähler sammeln und eine Mehrheit gewinnen. In London selbst droht ihm indessen Ungemach. Die Regionalregierung der Hauptstadt will prüfen lassen, ob Johnson während seiner Zeit als Bürgermeister einer guten Freundin und Unternehmerin öffentliche Gelder zugeschanzt habe.
In Manchester jedenfalls hätte der Parteitag mit Wahlzuckerln den triumphalen Auftakt liefern sollen. Schatzkanzler Sajid Javid hat bereits 15 Milliarden Pfund an Mehrausgaben für Spitäler, öffentliche Sicherheit und Infrastruktur angekündigt und den Beginn eines „Zeitalters der Erneuerung“versprochen: „Wir müssen die Partei des Volks sein.“Vom Parteitag erhoffen sich die Tories besonders ein Signal an Labour-Wahlkreise mit Brexit-Mehrheit in Nordengland. Der EU-Austritt bleibt das beherrschende Thema. Die radikale Zuspitzung ist für Johnson der Weg zum Erfolg. Seine kontroversiellen Worte sind bewusst gewählt: „Diese Regierung ist von Umfragen und Fokusgruppen getrieben wie keine seit der Amtszeit von Tony Blair“, sagt ein Insider.
Die Polarisierung scheint zu funktionieren: In Befragungen liegen die Tories durchgehend vor Labour, 41 Prozent wollen Johnson und nur 18 Prozent Corbyn als Premier, und 52 gegen 28 Prozent meinen, das Establishment wolle den Brexit verhindern.
Johnson und seine Umgebung blühen in der Konfrontation auf. Als „Sonntagsspaziergang“bezeichnet Cummings die Auseinandersetzung. „Wir haben Spaß.“Moderaten Konservativen mag das Lachen vergangen sein. Aber solang die Partei hoffen darf, dass Johnson den Sieg bringt, wird sie hinter ihm stehen. Es bleibt die BrexitFrage. Johnson hat sein politisches Kapital für einen Brexit am 31. Oktober „um jeden Preis“verpfändet. Was er nicht erwartet hatte: Der Widerstand gegen ihn hat die gespaltene Opposition zusammengeschweißt und ihn als Premier ohne Mehrheit handlungsunfähig gemacht. Der Mann, der einst „König der Welt“werden wollte, ist ein König ohne Land: Von sieben Abstimmungen im Parlament hat er sieben verloren. Er setzt den Ton, aber kontrolliert nicht das Geschehen.