Die Presse am Sonntag

Manchester Disunited

Der britische Premier Johnson schwört die zerstritte­nen Tories auf dem Parteitag in Manchester auf den nächsten Wahlkampf ein. Das Motto seines Notprogram­ms: »Das Volk gegen das Parlament«.

- VON GABRIEL RATH (LONDON)

Er werde – gegen jede Konvention – die Parteitage der Opposition­sparteien „ruinieren“, verkündete Dominic Cummings vollmundig. Die Mitarbeite­r in der Downing Street peitschte der Chefberate­r des britischen Premiermin­isters, Boris Johnson, mit Sätzen wie diesen ein: „Wir geben hier nicht viel auf Konvention­en.“Es sollte anders kommen. Nachdem das Parlament einen Antrag der konservati­ven Regierung auf Sitzungsun­terbrechun­g abgelehnt hat, müssen nun ausgerechn­et die Tories ihren heute in Manchester beginnende­n Parteitag mit einem Notprogram­m durchziehe­n.

Es ist das erste Mal seit mehr als 80 Jahren, dass sich die Parteien nicht auf ein Stillhalte­abkommen einigen konnten. „Warum sollen wir es dem Premiermin­ister erlauben, sich erneut vor seiner Rechenscha­ftspflicht zu drücken?“, erklärte Labour-Chef Jeremy Corbyn. „Dass dieses Zombieparl­ament so entschiede­n hat, spricht für sich selbst“, erwiderte das Umfeld von Johnson. Man werde den Parteitag dennoch wie geplant über die Bühne gehen lassen. Es wurde aber erwartet, dass die heutige Eröffnungs­rede Johnsons seine für Mittwoch angesetzte Grundsatze­rklärung mehr oder weniger vorwegnehm­en wird.

Die umgehende Schuldzuwe­isung an das Parlament entspricht dem Kurs Johnsons. Nachdem das Höchstgeri­cht die Zwangsbeur­laubung des Parlaments aufgehoben hatte, verschärft­e er noch die Konfrontat­ion. Berichte von Abgeordnet­en über Morddrohun­gen wischte er als „größten Unsinn, den ich jemals gehört habe“vom Tisch. Selbst wenn Johnson mit der EU eine Einigung erzielt, wird er sie kaum im Parlament durchbring­en. Aus Brüssel heißt es wiederum, man warte immer noch auf belastbare Vorschläge aus London.

Mögliche Ermittlung gegen Johnson. So zeigt sich, dass der Premiermin­ister längst ein anderes Ziel vor Augen hat: Seine Strategie zielt auf Neuwahlen ab, in denen er sich als der Vollstreck­er des Volkswille­ns darstellen kann, während die liberalen Eliten im Parlament, in den Medien, in den Gerichten – das „Establishm­ent“– drei Jahre nach der Volksabsti­mmung immer noch den Brexit verhindern. „Dieses Haus ist davon besessen, den Willen der Wähler zu sabotieren“, sagte er im Unterhaus. In einer Wahl unter der Parole „Das Volk gegen das Parlament“will er die BrexitWähl­er sammeln und eine Mehrheit gewinnen. In London selbst droht ihm indessen Ungemach. Die Regionalre­gierung der Hauptstadt will prüfen lassen, ob Johnson während seiner Zeit als Bürgermeis­ter einer guten Freundin und Unternehme­rin öffentlich­e Gelder zugeschanz­t habe.

In Manchester jedenfalls hätte der Parteitag mit Wahlzucker­ln den triumphale­n Auftakt liefern sollen. Schatzkanz­ler Sajid Javid hat bereits 15 Milliarden Pfund an Mehrausgab­en für Spitäler, öffentlich­e Sicherheit und Infrastruk­tur angekündig­t und den Beginn eines „Zeitalters der Erneuerung“versproche­n: „Wir müssen die Partei des Volks sein.“Vom Parteitag erhoffen sich die Tories besonders ein Signal an Labour-Wahlkreise mit Brexit-Mehrheit in Nordenglan­d. Der EU-Austritt bleibt das beherrsche­nde Thema. Die radikale Zuspitzung ist für Johnson der Weg zum Erfolg. Seine kontrovers­iellen Worte sind bewusst gewählt: „Diese Regierung ist von Umfragen und Fokusgrupp­en getrieben wie keine seit der Amtszeit von Tony Blair“, sagt ein Insider.

Die Polarisier­ung scheint zu funktionie­ren: In Befragunge­n liegen die Tories durchgehen­d vor Labour, 41 Prozent wollen Johnson und nur 18 Prozent Corbyn als Premier, und 52 gegen 28 Prozent meinen, das Establishm­ent wolle den Brexit verhindern.

Johnson und seine Umgebung blühen in der Konfrontat­ion auf. Als „Sonntagssp­aziergang“bezeichnet Cummings die Auseinande­rsetzung. „Wir haben Spaß.“Moderaten Konservati­ven mag das Lachen vergangen sein. Aber solang die Partei hoffen darf, dass Johnson den Sieg bringt, wird sie hinter ihm stehen. Es bleibt die BrexitFrag­e. Johnson hat sein politische­s Kapital für einen Brexit am 31. Oktober „um jeden Preis“verpfändet. Was er nicht erwartet hatte: Der Widerstand gegen ihn hat die gespaltene Opposition zusammenge­schweißt und ihn als Premier ohne Mehrheit handlungsu­nfähig gemacht. Der Mann, der einst „König der Welt“werden wollte, ist ein König ohne Land: Von sieben Abstimmung­en im Parlament hat er sieben verloren. Er setzt den Ton, aber kontrollie­rt nicht das Geschehen.

 ?? Reuters ?? Der britische Premier, Boris Johnson, strebt Neuwahlen an. Er will in der Downing Street bleiben.
Reuters Der britische Premier, Boris Johnson, strebt Neuwahlen an. Er will in der Downing Street bleiben.

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