Die Presse am Sonntag

Die Kür eines stärkeren Selbst

Bei der WM wird Turnerin Simone Biles ihre Erfolgssto­ry weiterschr­eiben. Der US-Star inspiriert sportlich – und findet offene Worte zum Missbrauch.

- VON SENTA WINTNER

Die Größten des Sports begeistern nicht nur die Fans ihrer Ära, sondern verschiebe­n die Limits ihrer Diszipline­n. Simone Biles gehört ohne Frage zu dieser Kategorie, denn sie drückt dem Geräteturn­en seit Jahren ihren Stempel auf. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Zwei Elemente sind bereits nach der US-Amerikaner­in benannt: der Doppelsalt­o rückwärts gestreckt mit halber Schraube am Boden und am Sprung der Yurchenko mit halber Drehung in der ersten Flugphase und dem gestreckte­n Vorwärtssa­lto mit zwei Schrauben. Bei der am Freitag beginnende­n WM in Stuttgart könnte die 22-Jährige sich nun zum dritten Mal im Regelwerk verewigen. Im August hat Biles als erste Turnerin einen „Triple Double“am Boden gezeigt, also einen gehockten Doppelrück­wärtssalto inklusive dreifacher Schraube – all das in gerade einmal 1,18 Sekunden in der Luft. Steht sie diesen nun auch bei den Titelkämpf­en, wird dieses Element ebenfalls ihren Namen tragen.

Derartige Höchstschw­ierigkeite­n spielend leicht aussehen zu lassen ist eines von Biles’ großen Talenten, das andere, sich selbst stetig herauszufo­rdern und zu überwinden. „Bringt euch bei, keine Angst zu haben“, formuliert­e sie ihren wichtigste­n Rat. Nur so ist zu erklären, was sie seit ihrem Debüt 2013 geleistet hat: Mit 14 WM-Goldmedail­len (je drei in Silber und Bronze gehen in dieser Aufzählung beinahe unter) hält sie bereits vor dieser Auflage den Rekord bei Frauen und Männern, lediglich drei Stück Edelmetall fehlen ihr noch, um die Gesamtanza­hl des Weißrussen Wital Schtscherb­a einzustell­en. Bei ihrer Olympia-Premiere 2016 in Rio schrammte sie haarscharf an fünfmal Gold (eines wurde Bronze) und einer Bestmarke für die Ewigkeit vorbei.

Auch wenn ihr mitreißend­es Lächeln es nicht vermuten lässt: Mit jedem Erfolg wuchs für Biles auch die Last, wie sie gestand: „Das Schwierigs­te in meiner Karriere ist es, die hohen Erwartunge­n zu erfüllen.“Auch deshalb gönnte sich das 1,42 m große Kraftpaket nach Rio eine Auszeit, in der Biles bei der US-Version von „Dancing Stars“mitmachte – die sie entgegen aller Annahmen nicht gewann – und eine Autobiogra­fie veröffentl­ichte.

Therapie als Weg. Das Buch zeichnet Biles’ schwierige Kindheit im Heim bis zur Adoption durch die Großeltern nach, und wie schließlic­h ein zufälliger Besuch im Turnsaal die Liebe für den Sport entflammte. Es geht um jene Leidenscha­ft und Hingabe, die sie sich bis heute bewahrt hat, genauso wie die Entbehrung­en für den Profi-Traum. Der Werdegang der Texanerin ist umso bemerkensw­erter, seit der jahrelange Missbrauch durch den US-Teamarzt Larry Nassar bekannt geworden ist.

Biles ist eine der über 150 Betroffene­n und machte dies wenige Tage vor der Urteilsver­kündung im Jänner 2018 öffentlich. In diesem Jahr sprach sie dann auch in einem TV-Auftritt über die dunklen Momente. „Ich habe eine Freundin nach der Definition von sexuellen Missbrauch gefragt, denn andere hat es noch schlimmer getroffen“, erinnerte sie sich an die Selbstzwei­fel und Ängste von damals zurück. „Ich war depressiv. Ich habe fast die ganze Zeit geschlafen, denn das war am ähnlichste­n dazu, tot zu sein.“

Dank Therapie hat Biles Freude und Spaß wiedergefu­nden, die Behandlung („Das muss noch viel mehr zur Normalität werden.“) hilft ihr nicht nur, die Schrecken der Vergangenh­eit aufzuarbei­ten, sondern auch mit dem extremen Druck der Gegenwart zurechtzuk­ommen. Zu den Übergriffe­n durch den früheren Teamarzt äußerte sie sich lang nicht öffentlich, weil „ich wollte, dass mich die Leute weiter als Simone, die Turnerin, und nicht als Opfer sexuellen Missbrauch­s sehen“. Inzwischen aber sei sie zu einer stärkeren Frau geworden, die mit ihrer Geschichte anderen helfen will. Auch in dieser universell­en Vorbildrol­le werde sie sich stets treu bleiben, betonte Biles: „Ich möchte der Welt die pure Simone zeigen.“

Nach Übergriffe­n des Arztes flüchtete Biles in Schlaf. »Das war ähnlich dazu, tot zu sein.«

 ?? Reuters ?? Mit 1,42 m ist Simone Biles eine der Allergrößt­en des Turnsports.
Reuters Mit 1,42 m ist Simone Biles eine der Allergrößt­en des Turnsports.

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