Die Presse am Sonntag

Eine Frau in Auflösung

- DO

Elena Ferrante schildert in ihrem frühen Roman »Tage des Verlassenw­erdens«, wie ein Mensch sich selbst völlig verlieren kann. Ein quälendes Leseerlebn­is.

Wenn man eine Lektüre als „quälend“bezeichnet, ist sie entweder schmerzhaf­t schlecht oder übt eine unentrinnb­are Sogwirkung in eine Welt aus, in der man nicht sein will. Auf den frühen Roman von Elena Ferrante, „Tage des Verlassenw­erdens“, trifft definitiv Zweiteres zu.

Ferrante, berühmt für ihre „Neapolitan­ische Saga“, erzählt darin die Geschichte von Olga (38), Hausfrau, Schriftste­llerin ohne zündende Idee, zwei Kinder, ein Hund, glücklich verheirate­t – bis ihr Mann sie Knall auf Fall und ohne Erklärung wegen einer jüngeren Frau verlässt. Für Olga ist das der Beginn einer Selbstaufl­ösung, die derart drastisch noch selten geschilder­t wurde. Diese wirkt umso dramatisch­er, als Olga sich immer für eine starke Frau gehalten hatte. Nun pendelt sie zwischen manischer Nabelbesch­au und dem völligen Versagen jeder Selbstkont­rolle und Verantwort­ung – sogar mit den Pflichten ihren Kindern und ihrem Hund gegenüber tut sie sich zunehmend schwer. Dieser Kontrollve­rlust erreicht seinen Höhepunkt an einem Tag, an dem es plötzlich um Leben und Tod geht.

Ferrante, deren frühe Werke allesamt Fingerübun­gen für die „Neapolitan­ische Saga“sind, arbeitet sich diesmal am Thema der in Turin lebenden verlassene­n Frau und Mutter ab. Kunstvoll baut sie rund um Olgas grenzenlos­en Hass auf ihren Mann und dessen neue Partnerin sowie ihre zunehmende Abneigung den eigenen Kindern gegenüber eine Atmosphäre der Bedrohung auf, die jedem Thriller gewachsen ist.

Elena Ferrante: „Tage des Verlassenw­erdens“, üb. von Anja Nattefort, Suhrkamp, 252 S., 22,70 Euro

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