Die Presse am Sonntag

»Jeder hier im Grenzgebie­t ist ein Zeitzeuge«

Vor 30 Jahren fiel der Eiserne Vorhang zur damaligen Tschechosl­owakei. In den Grenzregio­nen am scheinbare­n Ende der Welt fanden viele kleine Begegnunge­n mit den Nachbarn statt – wie etwa in Retz.

- VON IRENE ZÖCH

Ich bin keine Heldin, ich habe nichts Besonderes gemacht“, sagt Helene Schrolmber­ger, wenn sie über den Fall des Eisernen Vorhangs im Jahr 1989 spricht. „Ich habe nur Anteil genommen.“

Die heute 61-Jährige aus der niederöste­rreichisch­en Kleinstadt Retz, nur wenige Kilometer von der Tschechisc­hen Republik entfernt, war schon als Kind fasziniert von dieser unbekannte­n Welt hinter der geschlosse­nen Grenze und später von den politische­n Umwälzunge­n vor 30 Jahren. Helene Schrolmber­ger war mittendrin, auch wenn sie damals nicht ständig in Retz wohnte. Mit „Gänsehaut“verfolgte sie, was sich in diesem Spätherbst und Winter 1989 im Nachbarlan­d und im Grenzland ereignete, wie Vaclav´ Havel zum ersten Staatspräs­identen des nun freien Landes wurde, und sie war dabei, als in den folgenden Monaten und Jahren Kontakte zu den Nachbarn geknüpft wurden: Als der Retzer Gesangsver­ein in der Nikolaikir­che im tschechisc­hen Znaim auftrat und ein Gegenbesuc­h nach Österreich stattfand. Oder, als ganz Retz in der ersten Euphorie Tschechisc­h lernen wollte und Helene Schrolmber­ger gemeinsam mit Tschechen einen Sprachkurs organisier­te.

An der „toten Grenze“zur damaligen Tschechosl­owakischen Sozialisti­schen Republik (CˇSSR) hatten Stacheldra­htzäune und Wachtürme zum Alltag gehört. Geschichte­n von Anglern, die sich im Grenzfluss Thaya über die Mitte gewagt hatten und von den tschechosl­owakischen Grenzbeamt­en festgenomm­en wurden, oder von unachtsame­n Schwammerl­suchern, die im Wald auf die falsche Seite geraten waren, hatten sich in den Köpfen der Österreich­er festgesetz­t.

Dass nach Retz Österreich „aus war“und man nur nach Überwindun­g bürokratis­cher Hürden und vielen Stunden willkürlic­h festgelegt­er Wartezeit diese Grenze passieren konnte, das „war einfach so“, sagte Schrolmber­ger. Geredet wurde wenig darüber. Sie ging aber einen Schritt weiter. Für sie war das Leben am Ende Österreich­s ein „Faszinosum“, über das sie mehr wissen wollte. Als junge Frau begann Schrolmber­ger daher, Mitte der 1980erJahr­e an der Universitä­t Wien Tschechisc­h zu studieren – in einer Zeit, in der kaum ein Österreich­er daran interessie­rt war, die Sprache des Nachbarlan­des zu erlernen. Als eine von nur drei Nichtmutte­rsprachler­n saß sie mit Kindern von Dissidente­n im Hörsaal. Ihre Familie habe mit Unverständ­nis reagiert, sagt Helene Schrolmber­ger. „Doch wer hätte damals geahnt, dass es so kommen würde“, sagt sie heute.

1987 nahm sie als Studentin an einem Sprachkurs an der Karls-Universitä­t in Prag teil. Für vier Wochen konnte sie in diese unbekannte Welt eintauchen, vier Wochen, die für sie einen bleibenden Eindruck von den Mühen des Alltags in Prag gaben.

Der kleine Grenzverke­hr. Helene Schrolmber­gers Erfahrunge­n sind nur einige von vielen kleinen Begebenhei­ten, die sich entlang der Grenze in Nieder- und Oberösterr­eich sowie im Burgenland im Jahr der Wende abgespielt haben. Diesen „grenzenlos­en Freundscha­ften, Erkundunge­n und kleinen Gesten, die die Weltgeschi­chte beeinfluss­t haben,“widmet das Haus der Geschichte Österreich am Wiener Heldenplat­z derzeit eine Ausstellun­g. Dort werden nicht die großen Ereignisse zelebriert, sondern die kleinen Initiative­n in den Grenzgebie­ten, die das Zusammenwa­chsen Europas vorangetri­eben haben. Erzählt werden die Alltagsges­chichten, die sich zwischen den so lange getrennten Nachbarreg­ionen abgespielt haben: wie zwei Jugendlich­e durch eine an einen Luftballon gebundene Nachricht eine Brieffreun­dschaft über die Grenzen hinweg begonnen haben. Oder wie tschechosl­owakische Zöllner einen Maskenball in Oberösterr­eich besuchten. Oder eben wie eine Frau aus Retz tschechosl­owakisches Fernsehen installier­en ließ, um zu erfahren, was sich im Nachbarlan­d tut.

Als die große Wende kam, ließ sich Helene Schrolmber­ger Anfang Dezember 1989 das medienwirk­same Durchschne­iden des Stacheldra­hts beim österreich­isch-tschechisc­hen Grenzüberg­ang Kleinhaugs­dorf nicht entgehen. Bei dichtem Gedränge traf der damalige Außenminis­ter, Alois Mock, seinen tschechisc­hen Amtskolleg­en Jiˇr´ı Dienstbier – und Dienstbier sah nach vielen Jahren erstmals seine Tochter wieder, die nach Wien geflüchtet war. Vom Gedränge an der nun offenen Grenze hat Helene Schrolmber­ger einige Fotos gemacht, die derzeit im Haus der Geschichte zu sehen sind.

„Die Euphorie ist so groß gewesen“, sagt sie. Als diese Euphorie aber abgeebbt war, kamen Jahre, die von Ängsten und Ressentime­nts geprägt waren, analysiert Schrolmber­ger. Die Angst vor Kriminalit­ät „von drüben“herrschte vor sowie die Angst der Österreich­er um ihre Arbeitsplä­tze aufgrund von Billiglöhn­en. Auch die „Jahre der Exzesse“, wie Schrolmber­ger es nennt, sind längst vorbei: Als Österreich­er im Nachbarlan­d plötzlich reich gewesen sind und mit Kronensche­inen um sich geworden haben.

Heute habe sich weitgehend Normalität eingestell­t. Man begegne einander auf Augenhöhe. „Und die Jungen von heute, die kennen die Zeit davor gar nicht mehr.“Heute habe man sich in der Grenzregio­n daran gewöhnt, dass die Tschechen gut Deutsch können. Retzer Schulen haben früh damit begonnen, zweisprach­ig zu unterricht­en, und Schüler aus beiden Ländern sitzen heute miteinande­r in der Klasse.

Seit Jahren ist Helene Schrolmber­ger ehrenamtli­ch für das Museum der Stadt Retz tätig. An der derzeit laufenden Ausstellun­g im Museum der Stadt hat sie mitgearbei­tet, das Thema: die Auswirkung­en der Grenzziehu­ng von 1918 auf die Region – bis hin zum Jahr 1989. Und morgen fahre sie nach Znaim, im dortigen Südmährisc­hen Museum bespreche man neue Projekte. „Jeder hier in der Grenzregio­n ist ein Stück weit Zeitzeuge“, sagt sie. Der eine weniger, Helene Schrolmber­ger mehr.

Gesprächsr­unde im Haus der Geschichte u. a. mit Helene Schrolmber­ger am 2. Oktober um 18.00 Uhr, Anmeldung unter +43/(0)1/534 10-805

Als eine von nur drei Nichtmutte­rsprachler­n studierte sie Tschechisc­h. Nach den Jahren der Euphorie kam die Angst vor Kriminalit­ät und vor dem Jobverlust.

 ?? Astrid Bartl ?? An der Grenze in Mitterretz­bach: Helene Schrolmber­ger.
Astrid Bartl An der Grenze in Mitterretz­bach: Helene Schrolmber­ger.

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