Die Presse am Sonntag

ALEXANDER GABYSCHEW

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Auf seiner „demokratis­chen Wanderung“legte der Schamane rund 20 Kilometer pro Tag zurück. Gewissensg­efangenen. Für die Einstellun­g der Ermittlung­en haben sich in einer Onlinepeti­tion bisher mehr als 2700 Menschen ausgesproc­hen. Der Kreml will sich zu dem Fall nicht äußern. Das sei Sache der Lokalbehör­den, sagte Sprecher Dmitri Peskow.

Als Gabyschew vor mehr als sechs Monaten, am 6. März 2019, aus der Hauptstadt der russischen Teilrepubl­ik Jakutien loszog, war er so gut wie unbekannt: ein 51-jähriger Jakute, ein kleiner Mann mit großer Zahnlücke, mit einem Uni-Abschluss in Geschichte. Gearbeitet hat er als Schweißer, Elektriker, Hausmeiste­r. Nach einem Schicksals­schlag zog er sich von der Welt zurück. Dann habe er die Berufung zum Schamanen gespürt, wie er sagt. Für die traditione­llen sibirische­n Heiler gibt es keine Ausbildung. Einen erfolgreic­hen Schamanen erkennt man daran, dass er Anhänger hat. Und so kam es.

Bis zum Tag seiner Verhaftung hatte Gabyschew rund 3000 Kilometer zurückgele­gt und rund ein Dutzend Mitmarschi­erer. Er hatte Unterstütz­er, die ihn vor Ort aufnahmen und mit Sachspende­n halfen. Und Hunderte Fans in sozialen Netzwerken, die die Clips seiner Truppe unter dem Hashtag „Der Schamane geht“ansahen und teilten.

Schamane im Zeitgeist. Gabyschew war ausgezogen, um sein Land mithilfe eines schamanisc­hen Rituals von Präsident Wladimir Putin zu befreien. In Interviews gab er zu Protokoll, dass Putin ein Dämon sei. „Nur ein Schamane kann gegen ihn ankämpfen.“

Gabyschew sprach vom Kampf mit friedliche­n Mitteln, Blutvergie­ßen dürfe es keines geben. Seine Mission traf in diesem Sommer, als die Behörden den sibirische­n Waldbrände­n tatenlos zusahen und in Moskau wochenlang Proteste gegen den Ausschluss von Opposition­skandidate­n stattfande­n, einen Nerv. Stand Putin früher außerhalb der Kritik, wird er nun immer öfter persönlich für Missstände verantwort­lich gemacht. Nach 20 Jahren Putinismus erscheint das System altersschw­ach und abgenutzt. „Das Volk ist in einer künstliche­n Depression“, so der Schamane.

Gabyschew spaltete mit seinem Fußmarsch die Öffentlich­keit. Manche hielten ihn für nicht zurechnung­sfähig. Für andere wurde er zum Idol. Ein Künstler porträtier­te ihn als Mann mit Heiligensc­hein. Ein radikales Programm vertrat Gabyschew nicht. Er sprach von Bürgerbete­iligung, fairen Wahlen. Sein volksnahes Reden wirkte authentisc­h, schamanens­chlau. Die Sibirier haben sich in ihm erkannt: ein kleiner Mann aus dem Volk, noch dazu Angehörige­r einer Minderheit aus der östlichen Peripherie, der gegen das Unrecht zu Felde zieht. David gegen Goliath. Ein sibirische­r Gandhi. Dass er die Last eines monatelang­en Marsches ins politische Zentrum Russlands auf sich nahm, machte Eindruck. Gabyschew tat, was andere nicht wagten.

Mehrere Monate lang ignorierte­n die russischen Behörden den Wanderer, der seine Jurte in einem Karren zog und am Rand von Fernstraße­n, mitten in der Taiga, campierte. Die Wende kam, als der Schamane an Opposition­skundgebun­gen in sibirische­n Städten teilnahm und immer mehr Menschen begeistert­e. Rund um die Lokalwahl Anfang September waren die Behörden nervös. In Ulan-Ude kam es zu Protesten. Unterstütz­er des Schamanen wurden verhaftet. Bis Moskau, erklärte Gabyschew nichtsdest­otrotz, werde seine Bewegung eine ganze „Armee“sein.

Gabyschews „Verbrechen“war es, sich zu organisier­en und seine Meinung kundzutun. Die Staatsmach­t entschied, den Mann mit allen verfügbare­n Mitteln zu stoppen. Fast wirkt es so, als wären die Behörden von den Wunderkräf­ten des Schamanen mindestens so überzeugt wie er.

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