Gierschlund Faust reißt alles an sich
Martin Kuˇsej hat seine »Faust«-Inszenierung von München nach Wien transferiert. Im Burgtheater wirkt sie sehr originell, sofern man den Text nicht im Ohr hat. Fulminant: Das Ensemble.
Goethes Poesie in der Häckselmaschine, Monologe zu Schlagwörtern zerhackt, Zitate verändert, die Dramaturgie auf den Kopf gestellt: 2014 brachte Martin Kusejˇ am Münchner Residenztheater „Faust I und II“heraus, seit Freitagabend ist die Inszenierung im Burgtheater zu sehen. Ein Sakrileg, aber auch ein kühnes Unterfangen. Der fragmentierte Stoff dient als Bild für eine fragmentierte Gesellschaft, Menschen im Banne von YouTube, Games, Twitter, Instagram und Handy, die sich, außer beim Meditieren, nur mehr sehr kurz auf eine Sache konzentrieren wollen und können.
Dieses „Faust“-Konzept ist interessant, das Ensemble hervorragend. Die Story in Kürze: Faust hat sich bei seiner Raserei durch die Welt ruiniert. Eine Herz-OP, ausgeführt von Mephisto, der hernach als Begleiter engagiert wird, rettet dem Businessman das Leben. Doch wenn Mephisto seinen schwarzen Mund aufreißt, fühlt der Patient Beklemmung in der Brust. Faust geht in die Disco, er möchte mit jungen Leuten tanzen, aber die verspotten ihn nur. Im Boxring wird er ans Gitter geklatscht. Aleksandar Denic´ baute eine tolle Konstruktion für die Bühne, einen Kran, Plattformen, kleine Räume, die dominante Farbe ist Schwarz, das Innere der Kemenaten leuchtet weiß auf.
Baustelle Leben. Die Welt ist eine Baustelle wie das Leben, diese Binsenweisheit erhält hier erschreckende Wucht. „Der Kampf um Ruhe und Raum“, titelte neulich „Die Zeit“. Faust lässt alles zubetonieren, der Kolonisator als Baulöwe. Bald nach dem Beginn fallen ihm das alte Paar, Philemon und Baucis, zum Opfer. Fausts Welteroberung bildet die Klammer dieser Aufführung, seine Liebesgeschichte mit Gretchen ist bloß eine Episode, die Phase eines schwächelnden Lebemannes. Faust will eine Auszeit, vielleicht gar aussteigen, aber die leidenschaftliche Margarete macht ihm einen Strich durch die Rechnung. Auch sexuell ist das Fräulein fordernd. Faust, inzwischen Mädchen- und Waffenhändler, geht zurück ins Bordell. Doch Margarete in Gestalt eines noch jüngeren Kindes verfolgt ihn. Das Ende ist unheilig. Drei Stunden und 15 Minuten mit einer Pause dauert dieser meist atemberaubende Abend. Werner Wölbern als Faust bleibt unverjüngt, die Hexe macht ihm bloß was vor. Hier ist alles Fake, was bei Goethe magisch oder edel wirkt. Wölbern begeistert als rastloser Manager im grauen Anzug, nicht einmal im Bett mit Margarete (Andrea Wenzl) zieht er seine Unterhose aus, ein Wüstling eben. Wenzl bezaubert mit Dramatik und Innigkeit. Ein anderer Höhepunkt der Aufführung ist die perfide Szene zwischen Faust und Schüler Wagner (Jörg Lichtenstein): Faust will sich töten, Wagner rettet ihn, Faust ist erst zornig, dann dankbar.
Beglau. Ein bizarres Ereignis ist Bibiana Beglaus Mephisto, eingespannt in einen Teufelskonzern, der Versager beim Seelenfang degradiert. Beglau zeigt den größten Facettenreichtum. Dieser Mephisto vergnügt sich gern mit Hexen, offenbar ist auch Frau Marthe (Alexandra Henkel) eine solche, und Marie-Luise Stockinger als Magierin scheint sich gleichfalls mehr auf sexuellen Hokuspokus denn auf echte Zauberei zu verstehen. Philemon (Jürgen Stössinger) ist ein selbstbewusster Bauer. Barbara Petritsch gibt Baucis im Brautkleid, ferner Margaretes barsche Mutter, die – anstelle von Lieschen - ihre Tochter vor dem Ehrverlust warnt.
Während Kusejˇ seine erlesene Mannschaft durch diesen „Faust“jagt, der ohne Himmel und Helena auskommt, dafür aber reichlich irdisches Höllenfeuer entfacht, nimmt er sich für manche Szenen wieder sehr viel Zeit: Auf Mephistos Rücken kommt Faust nachts aus der Bar und trifft auf Margaretes Bruder Valentin (Daniel Jesch), der in seinem grandiosen Monolog auch durchschimmern lässt, wie eine ehrlichen Kleinbürgerfamilie durch einen Großkapitalisten ausradiert wird.
Sex und Profit statt Religion: Am Ende wartet nicht das Heil, sondern die Finsternis. Andrea Wenzl bezaubert mit Innigkeit als Margarete, die einzig Ehrliche dieses Abends.
Mit der Wortdeutlichkeit hapert es noch in der großen Burg, das Residenztheater ist kleiner. In einigen Sequenzen, mit IS-Truppen und im Bordell, wo Wahnsinn und Elend ineinanderfließen, merkt man die Jahreszahl dieser Inszenierung. Doch so viel hat sich auch wieder nicht geändert seit 2014. Die Scheinwerfer der öffentlichen Aufmerksamkeit richten sich jeweils auf die neuesten Schauplätze, während frühere nicht verschwinden, sondern nur ins Dunkel sinken.
Dieser „Faust“lässt viele Möchtegern-Dekonstrukteure von Stücken alt aussehen: Der Wahnsinn hat hier wirklich Methode. Die Aufführung zeigt einen gereiften Spielmacher mit einer klaren, aber nicht billigen politischen Botschaft und Einfallsreichtum. Starker Applaus, einige Buhs für Kusej.ˇ