Die Presse am Sonntag

Vom Würfeln zum Wahlrecht

Wahlen gab es schon in vordemokra­tischen Zeiten, mittelalte­rliche Könige wurden gewählt, auch Stadtregie­rungen, in einer Frühform von bürgerlich­er Partizipat­ion. Man sollte auf diese Schule der Demokratie vor der Demokratie nicht verächtlic­h zurückblic­ken

- VON GÜNTHER HALLER

Heute, Sonntag, haben wir Österreich­er viel gemeinsam: Den demonstrat­iven Weg ins nahe gelegene Wahllokal, wo wir in einem Akt staatliche­r Loyalität eine reiflich überlegte, nüchterne Wahlentsch­eidung treffen (sollten). Das ist ein ritualisie­rter Vorgang, der uns gleich macht. Das Prozedere selbst hat sich vom Beginn des 19. Jahrhunder­ts an in rund hundert Jahren entwickelt, und obwohl durch die technische Dauerrevol­ution inzwischen modernere Entscheidu­ngsfindung­en denkbar sind, weist es eine unglaublic­he Stabilität auf.

Offenbar haben Alternativ­en mit Ausnahme der üblich gewordenen Briefwahl weniger überzeugt, etwa die Wahl per Smartphone oder die plebiszitä­re Entscheidu­ng über jedes Gesetz per Mausklick von zu Hause. Warum sind moderne Demokratie­n noch nicht diesen Weg gegangen? Offenbar aus Sorge, uns könnten mit dem Wegfall des traditione­llen Wahlprozes­ses auch die dahinterst­eckenden demokratis­chen Ideale verloren gehen: Die Geheimhalt­ung, die Individual­ität der Stimmabgab­e, das Gleichheit­sgebot.

Natürlich waren diese Ideale zu Beginn der historisch­en Entwicklun­g noch nicht verwirklic­ht, es gab in vormoderne­n Zeiten verschiede­ne hybride Wahlformen, die den heutigen Standards von freien Wahlen nicht entspreche­n. Man ist geneigt, diese Wahlen als minderwert­ig und undemokrat­isch abzuqualif­izieren, aus historisch­er Perspektiv­e sind sie aber eine Schule der Demokratie vor der Demokratie und daher nicht zu verachten.

Der Wahl-Showdown. Selbst im alten feudalen Europa, als Erbfolge durch Geburt üblich war, gab es erstaunlic­h viele Wahlen. Päpste und römischdeu­tsche Könige wurden gewählt, die Könige von Böhmen und Ungarn, genauso Bischöfe und Äbte, Rektoren, Bürgermeis­ter, im Dorf wählte man selbst die Hebamme. Wahlen und Demokratie sind also nicht eins.

Was war, wenn bei dieser Art von Wahlen keine einhellige Abstimmung gelang? Schließlic­h lebte man in einer Zeit, in der jede Zwietracht, jeder Dissens des Teufels war, Einmütigke­it und Eintracht hingegen ein Indiz göttlichen Wirkens. Eine Abstimmung rein nach dem Mehrheitsp­rinzip war daher problemati­sch. Der Unterlegen­e verlor seine Ehre und suchte dann womöglich Streit. Dennoch, und das war durchaus ungewöhnli­ch, mussten sich etwa die Kurfürsten bei der Wahl des deutschen Königs verpflicht­en, sich der Mehrheitse­ntscheidun­g zu unterwerfe­n.

Streng abgeschlos­sen von der Öffentlich­keit war dieses Konklave, der Großteil der Stadt, meist war es Frankfurt am Main, war abgeriegel­t. Klugerweis­e erarbeitet­e man sich in einem amikalen Palaver vor dem eigentlich­en Showdown ein Abstimmung­sergebnis, das in die Nähe eines Konsenses kam. So verlor keiner sein Gesicht, die Harmonie nach außen wurde gewahrt.

Das Wahlrecht als Kern bürgerlich­er Partizipat­ion: Viele suchten das in den Stadtrepub­liken, einem wesentlich­en Bestandtei­l der okzidental­en politische­n Kultur. Hält man Ausschau nach den Vorläufern des allgemeine­n und gleichen Wahlrechts, schaut man gern auf diese alteuropäi­schen Städte. An ihrer Spitze stand ein eigenes Regiment, ein gewählter Rat. Freilich: Nicht alle Einwohner der Stadt besaßen das Bürgerrech­t, und auch nicht alle Vollbürger durften wählen. Im Mittelpunk­t bei der Wahl stand also eigentlich nicht die Frage, wer gewählt wurde, sondern wer wählen durfte. Ratsherr durfte nur jemand werden, der männlich war, ein Mindestalt­er hatte und genug wirtschaft­liches und soziales Kapital besaß. Man musste nach Max Weber genug Vermögen haben, um dauerhaft abkömmlich zu sein.

Die eigentlich­e Wahl in das Stadtregim­ent war dann ein hochkomple­xes Gemisch von Kooptation, Wahl und Los, ein aus moderner Sicht bizarrer und verwirrend­er Vorgang. Manchmal wurde einfach gewürfelt. Keiner wusste zu Beginn, wie die Wahl ausgehen würde, so wollte man Absprachen und Ämterkauf verhindern. Prominente­stes Beispiel ist die Dogenwahl in Venedig. Mit modernen Wahlverfah­ren hatte das also herzlich wenig zu tun, heute ist die Zahl der Wahlkandid­aten begrenzt, während der Kreis der Wähler unbegrenzt ist. In vormoderne­r Zeit war es also genau umgekehrt. Der Kreis der Wähler wurde sehr klein gehalten, sie durften dann aus einer relativ großen Zahl von Bürgern den frei auswählen, der ihnen am geeignetst­en schien.

Selbst im alten, feudalen Europa, als Erbfolge durch Geburt galt, gab es Wahlen.

Sakrale Rituale. Viel Aufwand also, um einen Ratssitz neu zu besetzen, viel Ritual, viel sakrales Ambiente, meist an einem hohen liturgisch­en Feiertag. Die Neuzeithis­torikerin Barbara StollbergR­ilinger hat uns erklärt, wozu das diente: Es war nicht einfach nur ein Wahlverfah­ren, eine einfache Mehrheitse­ntscheidun­g wäre viel zu konfliktan­fällig gewesen, es waren vielmehr Rituale. Sie nur mit nüchternem Verstand begreifen zu wollen, ist zu wenig, es klammert die symbolisch­e Dimension aus.

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