Vom Würfeln zum Wahlrecht
Wahlen gab es schon in vordemokratischen Zeiten, mittelalterliche Könige wurden gewählt, auch Stadtregierungen, in einer Frühform von bürgerlicher Partizipation. Man sollte auf diese Schule der Demokratie vor der Demokratie nicht verächtlich zurückblicken
Heute, Sonntag, haben wir Österreicher viel gemeinsam: Den demonstrativen Weg ins nahe gelegene Wahllokal, wo wir in einem Akt staatlicher Loyalität eine reiflich überlegte, nüchterne Wahlentscheidung treffen (sollten). Das ist ein ritualisierter Vorgang, der uns gleich macht. Das Prozedere selbst hat sich vom Beginn des 19. Jahrhunderts an in rund hundert Jahren entwickelt, und obwohl durch die technische Dauerrevolution inzwischen modernere Entscheidungsfindungen denkbar sind, weist es eine unglaubliche Stabilität auf.
Offenbar haben Alternativen mit Ausnahme der üblich gewordenen Briefwahl weniger überzeugt, etwa die Wahl per Smartphone oder die plebiszitäre Entscheidung über jedes Gesetz per Mausklick von zu Hause. Warum sind moderne Demokratien noch nicht diesen Weg gegangen? Offenbar aus Sorge, uns könnten mit dem Wegfall des traditionellen Wahlprozesses auch die dahintersteckenden demokratischen Ideale verloren gehen: Die Geheimhaltung, die Individualität der Stimmabgabe, das Gleichheitsgebot.
Natürlich waren diese Ideale zu Beginn der historischen Entwicklung noch nicht verwirklicht, es gab in vormodernen Zeiten verschiedene hybride Wahlformen, die den heutigen Standards von freien Wahlen nicht entsprechen. Man ist geneigt, diese Wahlen als minderwertig und undemokratisch abzuqualifizieren, aus historischer Perspektive sind sie aber eine Schule der Demokratie vor der Demokratie und daher nicht zu verachten.
Der Wahl-Showdown. Selbst im alten feudalen Europa, als Erbfolge durch Geburt üblich war, gab es erstaunlich viele Wahlen. Päpste und römischdeutsche Könige wurden gewählt, die Könige von Böhmen und Ungarn, genauso Bischöfe und Äbte, Rektoren, Bürgermeister, im Dorf wählte man selbst die Hebamme. Wahlen und Demokratie sind also nicht eins.
Was war, wenn bei dieser Art von Wahlen keine einhellige Abstimmung gelang? Schließlich lebte man in einer Zeit, in der jede Zwietracht, jeder Dissens des Teufels war, Einmütigkeit und Eintracht hingegen ein Indiz göttlichen Wirkens. Eine Abstimmung rein nach dem Mehrheitsprinzip war daher problematisch. Der Unterlegene verlor seine Ehre und suchte dann womöglich Streit. Dennoch, und das war durchaus ungewöhnlich, mussten sich etwa die Kurfürsten bei der Wahl des deutschen Königs verpflichten, sich der Mehrheitsentscheidung zu unterwerfen.
Streng abgeschlossen von der Öffentlichkeit war dieses Konklave, der Großteil der Stadt, meist war es Frankfurt am Main, war abgeriegelt. Klugerweise erarbeitete man sich in einem amikalen Palaver vor dem eigentlichen Showdown ein Abstimmungsergebnis, das in die Nähe eines Konsenses kam. So verlor keiner sein Gesicht, die Harmonie nach außen wurde gewahrt.
Das Wahlrecht als Kern bürgerlicher Partizipation: Viele suchten das in den Stadtrepubliken, einem wesentlichen Bestandteil der okzidentalen politischen Kultur. Hält man Ausschau nach den Vorläufern des allgemeinen und gleichen Wahlrechts, schaut man gern auf diese alteuropäischen Städte. An ihrer Spitze stand ein eigenes Regiment, ein gewählter Rat. Freilich: Nicht alle Einwohner der Stadt besaßen das Bürgerrecht, und auch nicht alle Vollbürger durften wählen. Im Mittelpunkt bei der Wahl stand also eigentlich nicht die Frage, wer gewählt wurde, sondern wer wählen durfte. Ratsherr durfte nur jemand werden, der männlich war, ein Mindestalter hatte und genug wirtschaftliches und soziales Kapital besaß. Man musste nach Max Weber genug Vermögen haben, um dauerhaft abkömmlich zu sein.
Die eigentliche Wahl in das Stadtregiment war dann ein hochkomplexes Gemisch von Kooptation, Wahl und Los, ein aus moderner Sicht bizarrer und verwirrender Vorgang. Manchmal wurde einfach gewürfelt. Keiner wusste zu Beginn, wie die Wahl ausgehen würde, so wollte man Absprachen und Ämterkauf verhindern. Prominentestes Beispiel ist die Dogenwahl in Venedig. Mit modernen Wahlverfahren hatte das also herzlich wenig zu tun, heute ist die Zahl der Wahlkandidaten begrenzt, während der Kreis der Wähler unbegrenzt ist. In vormoderner Zeit war es also genau umgekehrt. Der Kreis der Wähler wurde sehr klein gehalten, sie durften dann aus einer relativ großen Zahl von Bürgern den frei auswählen, der ihnen am geeignetsten schien.
Selbst im alten, feudalen Europa, als Erbfolge durch Geburt galt, gab es Wahlen.
Sakrale Rituale. Viel Aufwand also, um einen Ratssitz neu zu besetzen, viel Ritual, viel sakrales Ambiente, meist an einem hohen liturgischen Feiertag. Die Neuzeithistorikerin Barbara StollbergRilinger hat uns erklärt, wozu das diente: Es war nicht einfach nur ein Wahlverfahren, eine einfache Mehrheitsentscheidung wäre viel zu konfliktanfällig gewesen, es waren vielmehr Rituale. Sie nur mit nüchternem Verstand begreifen zu wollen, ist zu wenig, es klammert die symbolische Dimension aus.