Culture Clash
FRONTNACHRICHTEN AUS DEM KULTURKAMPF
Referendumm gelaufen. Nicht Johnsons aggressive Wortwahl ist das große Brexit-Problem, sondern die unsachgemäße Anwendung einer Volksabstimmung in einem parlamentarischen System.
Täglich schockieren uns neue brisante Enthüllungen. Eine Haarlocke von HeinzChristian Strache soll auf dem Markt gewesen sein! Da tut es an einem Wahltag gut, sich mit den Sorgen anderer zu beschäftigen. Etwa mit dem turbulenten Mittwoch im britischen Parlament, dessen elfstündiger Videomitschnitt übrigens Reality-TV vom Feinsten ist. Downton Abbey in Westminster.
Der Tag ist in der Rezeption jedenfalls als ein Tiefpunkt der Gehässigkeit gesehen worden, wobei die Johnson-Gegner am meisten empört hat, dass er sich nach seiner Niederlage vor dem Höchstgericht nicht beschämt gezeigt hat. Außerdem provoziert Johnson, indem er das Gesetz, das zu Verhandlungen mit Brüssel zwingt, „Surrender Act“nennt, „Kapitulationsakte“. Entgegen den Medienberichten hat er aber nie gesagt, dass man die von einem Fanatiker ermordete Brexit-Gegnerin Jo Cox am besten würdigt, indem man den Brexit endlich durchboxt. Er hat bloß gesagt, dass das die aufgeheizte Stimmung am besten auflösen würde.
Die Wortwahl Johnsons war jedenfalls – etwa auch in der Kritik seitens seiner Geschwister – eher ein Thema als die eigentlich problematische Basis seiner Rhetorik. Nämlich die Behauptung, man verrate das für den Brexit votiert habende „Volk“, wenn man Johnsons Weg zum Brexit ablehnt. Die Gleichsetzung von Volkswillen und eigener Agenda (Wer mich angreift, greift euch alle an!) triggert zu Recht Populismusalarm. Der Volksverrätervorwurf an „das Parlament“hebelt zudem den Anspruch der Parlamentarier aus, in ihrer Gesamtheit das Volk zu vertreten – und das ist immerhin die Grundlage der bisher stabilen britischen Demokratie. Hier wird deutlich, was seit drei Jahren an der Brexit-Endlosschleife schuld ist: In ein etabliertes, austariertes System repräsentativer Demokratie hat man das fremde Element eines Referendums hineingebolzt.
Durch viele Generationen waren die Abgeordneten jeweils ihrem Wahlkreis verantwortlich und haben ihre Beschlüsse mit dessen aktueller Stimmung legitimiert. Nun gibt es eine Momentaufnahme des Volkswillens vom 23. Juni 2016, in dem eine relative Mehrheit einen nicht näher definierten Austritt aus der EU vorgeschrieben hat. Für den Umgang damit gibt es keine Erfahrung und möglicherweise auch gar keine Lösung im britischen System.
Insgesamt ist das ein gutes Beispiel dafür, dass mehr direkte Demokratie ein Land nicht unbedingt demokratischer macht. Womit wir uns wieder unseren eigenen großen Fragen zuwenden können. Hat die Partei eigentlich auch die Kosten von Norbert Hofers Gartenzwergen übernommen?
Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.