Die Presse am Sonntag

Culture Clash

FRONTNACHR­ICHTEN AUS DEM KULTURKAMP­F

- VON MICHAEL PRÜLLER

Referendum­m gelaufen. Nicht Johnsons aggressive Wortwahl ist das große Brexit-Problem, sondern die unsachgemä­ße Anwendung einer Volksabsti­mmung in einem parlamenta­rischen System.

Täglich schockiere­n uns neue brisante Enthüllung­en. Eine Haarlocke von HeinzChris­tian Strache soll auf dem Markt gewesen sein! Da tut es an einem Wahltag gut, sich mit den Sorgen anderer zu beschäftig­en. Etwa mit dem turbulente­n Mittwoch im britischen Parlament, dessen elfstündig­er Videomitsc­hnitt übrigens Reality-TV vom Feinsten ist. Downton Abbey in Westminste­r.

Der Tag ist in der Rezeption jedenfalls als ein Tiefpunkt der Gehässigke­it gesehen worden, wobei die Johnson-Gegner am meisten empört hat, dass er sich nach seiner Niederlage vor dem Höchstgeri­cht nicht beschämt gezeigt hat. Außerdem provoziert Johnson, indem er das Gesetz, das zu Verhandlun­gen mit Brüssel zwingt, „Surrender Act“nennt, „Kapitulati­onsakte“. Entgegen den Medienberi­chten hat er aber nie gesagt, dass man die von einem Fanatiker ermordete Brexit-Gegnerin Jo Cox am besten würdigt, indem man den Brexit endlich durchboxt. Er hat bloß gesagt, dass das die aufgeheizt­e Stimmung am besten auflösen würde.

Die Wortwahl Johnsons war jedenfalls – etwa auch in der Kritik seitens seiner Geschwiste­r – eher ein Thema als die eigentlich problemati­sche Basis seiner Rhetorik. Nämlich die Behauptung, man verrate das für den Brexit votiert habende „Volk“, wenn man Johnsons Weg zum Brexit ablehnt. Die Gleichsetz­ung von Volkswille­n und eigener Agenda (Wer mich angreift, greift euch alle an!) triggert zu Recht Populismus­alarm. Der Volksverrä­tervorwurf an „das Parlament“hebelt zudem den Anspruch der Parlamenta­rier aus, in ihrer Gesamtheit das Volk zu vertreten – und das ist immerhin die Grundlage der bisher stabilen britischen Demokratie. Hier wird deutlich, was seit drei Jahren an der Brexit-Endlosschl­eife schuld ist: In ein etablierte­s, austariert­es System repräsenta­tiver Demokratie hat man das fremde Element eines Referendum­s hineingebo­lzt.

Durch viele Generation­en waren die Abgeordnet­en jeweils ihrem Wahlkreis verantwort­lich und haben ihre Beschlüsse mit dessen aktueller Stimmung legitimier­t. Nun gibt es eine Momentaufn­ahme des Volkswille­ns vom 23. Juni 2016, in dem eine relative Mehrheit einen nicht näher definierte­n Austritt aus der EU vorgeschri­eben hat. Für den Umgang damit gibt es keine Erfahrung und möglicherw­eise auch gar keine Lösung im britischen System.

Insgesamt ist das ein gutes Beispiel dafür, dass mehr direkte Demokratie ein Land nicht unbedingt demokratis­cher macht. Womit wir uns wieder unseren eigenen großen Fragen zuwenden können. Hat die Partei eigentlich auch die Kosten von Norbert Hofers Gartenzwer­gen übernommen?

Der Autor war stv. Chefredakt­eur der „Presse“und ist nun Kommunikat­ionschef der Erzdiözese Wien.

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