Ein Plädoyer für den Landarzt
Zu viele Untersuchungen, zu viele Medikamente, zu viele Hubschraubereinsätze: Günther Loewit plädiert für eine Medizin, in der das Arzt-Patienten-Verhältnis im Mittelpunkt steht.
In einer niederösterreichischen Gemeinde stürzt ein allseits bekannter Alkoholiker und zieht sich eine blutende Kopfwunde zu. Ein Anruf bei der Rettung löst eine Großaktion aus: Neben dem Krankenwagen kommt auch noch der Hubschrauber und bringt den Mann ins Krankenhaus. Dort wird ein Schädelröntgen und eine Computertomografie gemacht, die Wunde genäht und der Mann mit dem Rettungswagen wieder nach Hause geschickt.
Für den Arzt Günther Loewit ist der Fall ein Paradebeispiel dafür, was in unserem Gesundheitssystem falsch läuft. Für Bagatellfälle wird ein großer Aufwand betrieben, Tausende Euro kostete die Versorgung dieses Patienten. Früher einmal wäre einfach der Hausarzt informiert worden, der die blutende Wunde in seiner Praxis genäht hätte. Kosten: 60 bis 100 Euro. Und das ist kein Einzelfall: 80 bis 90 Prozent aller Hubschraubereinsätze sind medizinisch betrachtet nicht notwendig, findet er. Aber Hubschraubereinsätze sind auch ein gutes Geschäft.
Loewit beschreibt in seinem neuen Buch („Sieben Milliarden für nichts. Ein Landarzt rechnet ab“) viele derartige Beispiele aus den unterschiedlichsten Bereichen. Beispiel Medikamente: Der Arzt berichtet von einem 89-Jährigen, der nach einem Klinikaufenthalt 17 verschiedene Medikamente zu sich nehmen soll und dem es dabei immer schlechter geht. Die Intervention, bis auf ein lebensnotwendiges Medikament alle anderen wegzulassen und die Veränderung zu beobachten, zeigt erstaunliche Folgen: Der Patient blüht auf und lebt weitgehend beschwerdefrei.
Bei vielen Krankheitsbildern wäre kontrolliertes Zuwarten sicherer und kostengünstiger, als sofortige medikamentöse Behandlung, findet Loewit. Aber Ärzte lernen eben eher Zweiteres. Speziell, seit die pharmazeutische Industrie den Universitäten in der medizinischen Forschung den Rang abgelaufen hat.
Ein „Zuviel“gibt es auch in anderen Bereichen: Bei Untersuchungen etwa. Laboruntersuchungen, Ultraschall, MRT seien in vielen Fällen teuer und überflüssig. Und sie würden „mehr Angst und Schrecken verursachen, als zur medizinischen Wahrheitsfindung beizutragen“. Der Patient, der glaubt, an Bauchspeicheldrüsenkrebs zu sterben, nur weil die Blutabnahme fehlerhaft durchgeführt wurde, ist nur ein Beispiel dafür.
Sterblichkeitsrate 100 Prozent. Zu viel wird nach Loewits Ansicht vor allem am Ende des Lebens gemacht. Der Versuch der modernen Medizin, das Sterben zu vereiteln, sei natürlich zum Scheitern verurteilt, die Sterblichkeitsrate betrage immer noch 100 Prozent. Die medizinischen Interventionen in der letzten Lebensphase seien darauf ausgerichtet, zusätzliche Lebenszeit zu gewinnen, nicht aber Lebensqualität. Da werden noch sündteure Tumortherapien versucht, die zwar statistisch gesehen einen Zugewinn an Lebenszeit von einigen Tagen oder Wochen bringen, aber von so heftigen Nebenwirkungen begleitet sind, dass sich die betroffenen Patienten oft nur noch den Tod wünschen.
Auch hier ein eindrucksvolles Beispiel aus Loewits Praxis: Eine Krebspatienten stirbt nach langer Leidenszeit, sie schläft friedlich vor dem Fernseher ein. Die herbeigerufene Rettung reanimiert die völlig abgemagerte Frau und bringt sie per Hubschrauber ins Spital, wo sie noch sieben Tage im Koma liegt und dann endgültig stirbt.
Es gibt aber nicht nur ein „Zuviel“im medizinischen Betrieb, sondern vor allem auch ein „Zuwenig“: Zu wenig Zeit nämlich, die die Ärzte für ihre Patienten haben. 11 bis 24 Sekunden dauert es laut einer Studie im Schnitt, bis der Arzt seinen Patienten das erste
Günther Loewit
7 Milliarden für nichts – Ein Landarzt rechnet mit dem Gesundheitssystem ab. edition a, 224 Seiten, 22 Euro
www.guentherloewit.at
Buchpräsentation
11. 2. 2020, 19.15 Uhr, Thalia, Mariahilfer Straße 99, 1060 Wien
Mal beim Schildern seiner Beschwerden unterbricht. Der Honorarkatalog der Krankenkassen misst dem ärztlichen Gespräch keinen sonderlich hohen Stellenwert bei: Es wird im Schnitt mit 15 Euro pro Fall und Quartal honoriert. Dabei sei das der Schlüssel für eine erfolgreiche Behandlung. Eine gründliche Anamnese schaffe Vertrauen und mache es möglich, bestimmte Krankheiten von vornherein auszuschließen: „Kindliches Bauchweh, das regelmäßig vor Mathematikschularbeiten auftritt, stellt sicher keine organische Krankheit dar und bedarf keiner medizinischen Abklärung.“
Günther Loewit ist seit 1986 Landarzt in Marchegg in Niederösterreich. Und genau dieser Berufsstand ist aus seiner Sicht am geeignetsten für eine sinnvolle medizinische Versorgung. Er kenne die örtlichen Gegebenheiten und die Lebensumstände seiner Patienten. Und er sei in der Lage, deren Krankheiten mit ihrer momentanen Lebenssituation in Zusammenhang zu bringen.
Viele Untersuchungen verursachen nur Angst und Schrecken.
Bauchweh vor der Mathematikschularbeit ist keine organische Krankheit.
Unterstützung aus der Politik sieht er trotz einiger Lippenbekenntnisse wenig. Im Gegenteil: Der Beruf des Landarztes werde zusehends ausgehungert. Rettungsdienste haben weitgehend die Wochenendbereitschaft übernommen, Patienten werden in Ambulanzen versorgt. Dabei sei ein gut ausgebautes Netz an Landärzten die kostengünstigste Form der Medizin, so Loewit.
Sieben Milliarden Euro ließen sich nach seinen Berechnungen ohne Schaden für die Patienten einsparen. Ob junge Ärzte den 24-Stunden-Job des Landarztes überhaupt noch machen wollen? Loewit ist zuversichtlich – so die Bezahlung attraktiv ist. Außerdem könne man ja neue Modelle versuchen und Kassenstellen teilen.