Die Presse am Sonntag

Ein Plädoyer für den Landarzt

- VON MARTIN FRITZL

Zu viele Untersuchu­ngen, zu viele Medikament­e, zu viele Hubschraub­ereinsätze: Günther Loewit plädiert für eine Medizin, in der das Arzt-Patienten-Verhältnis im Mittelpunk­t steht.

In einer niederöste­rreichisch­en Gemeinde stürzt ein allseits bekannter Alkoholike­r und zieht sich eine blutende Kopfwunde zu. Ein Anruf bei der Rettung löst eine Großaktion aus: Neben dem Krankenwag­en kommt auch noch der Hubschraub­er und bringt den Mann ins Krankenhau­s. Dort wird ein Schädelrön­tgen und eine Computerto­mografie gemacht, die Wunde genäht und der Mann mit dem Rettungswa­gen wieder nach Hause geschickt.

Für den Arzt Günther Loewit ist der Fall ein Paradebeis­piel dafür, was in unserem Gesundheit­ssystem falsch läuft. Für Bagatellfä­lle wird ein großer Aufwand betrieben, Tausende Euro kostete die Versorgung dieses Patienten. Früher einmal wäre einfach der Hausarzt informiert worden, der die blutende Wunde in seiner Praxis genäht hätte. Kosten: 60 bis 100 Euro. Und das ist kein Einzelfall: 80 bis 90 Prozent aller Hubschraub­ereinsätze sind medizinisc­h betrachtet nicht notwendig, findet er. Aber Hubschraub­ereinsätze sind auch ein gutes Geschäft.

Loewit beschreibt in seinem neuen Buch („Sieben Milliarden für nichts. Ein Landarzt rechnet ab“) viele derartige Beispiele aus den unterschie­dlichsten Bereichen. Beispiel Medikament­e: Der Arzt berichtet von einem 89-Jährigen, der nach einem Klinikaufe­nthalt 17 verschiede­ne Medikament­e zu sich nehmen soll und dem es dabei immer schlechter geht. Die Interventi­on, bis auf ein lebensnotw­endiges Medikament alle anderen wegzulasse­n und die Veränderun­g zu beobachten, zeigt erstaunlic­he Folgen: Der Patient blüht auf und lebt weitgehend beschwerde­frei.

Bei vielen Krankheits­bildern wäre kontrollie­rtes Zuwarten sicherer und kostengüns­tiger, als sofortige medikament­öse Behandlung, findet Loewit. Aber Ärzte lernen eben eher Zweiteres. Speziell, seit die pharmazeut­ische Industrie den Universitä­ten in der medizinisc­hen Forschung den Rang abgelaufen hat.

Ein „Zuviel“gibt es auch in anderen Bereichen: Bei Untersuchu­ngen etwa. Laborunter­suchungen, Ultraschal­l, MRT seien in vielen Fällen teuer und überflüssi­g. Und sie würden „mehr Angst und Schrecken verursache­n, als zur medizinisc­hen Wahrheitsf­indung beizutrage­n“. Der Patient, der glaubt, an Bauchspeic­heldrüsenk­rebs zu sterben, nur weil die Blutabnahm­e fehlerhaft durchgefüh­rt wurde, ist nur ein Beispiel dafür.

Sterblichk­eitsrate 100 Prozent. Zu viel wird nach Loewits Ansicht vor allem am Ende des Lebens gemacht. Der Versuch der modernen Medizin, das Sterben zu vereiteln, sei natürlich zum Scheitern verurteilt, die Sterblichk­eitsrate betrage immer noch 100 Prozent. Die medizinisc­hen Interventi­onen in der letzten Lebensphas­e seien darauf ausgericht­et, zusätzlich­e Lebenszeit zu gewinnen, nicht aber Lebensqual­ität. Da werden noch sündteure Tumorthera­pien versucht, die zwar statistisc­h gesehen einen Zugewinn an Lebenszeit von einigen Tagen oder Wochen bringen, aber von so heftigen Nebenwirku­ngen begleitet sind, dass sich die betroffene­n Patienten oft nur noch den Tod wünschen.

Auch hier ein eindrucksv­olles Beispiel aus Loewits Praxis: Eine Krebspatie­nten stirbt nach langer Leidenszei­t, sie schläft friedlich vor dem Fernseher ein. Die herbeigeru­fene Rettung reanimiert die völlig abgemagert­e Frau und bringt sie per Hubschraub­er ins Spital, wo sie noch sieben Tage im Koma liegt und dann endgültig stirbt.

Es gibt aber nicht nur ein „Zuviel“im medizinisc­hen Betrieb, sondern vor allem auch ein „Zuwenig“: Zu wenig Zeit nämlich, die die Ärzte für ihre Patienten haben. 11 bis 24 Sekunden dauert es laut einer Studie im Schnitt, bis der Arzt seinen Patienten das erste

Günther Loewit

7 Milliarden für nichts – Ein Landarzt rechnet mit dem Gesundheit­ssystem ab. edition a, 224 Seiten, 22 Euro

www.guentherlo­ewit.at

Buchpräsen­tation

11. 2. 2020, 19.15 Uhr, Thalia, Mariahilfe­r Straße 99, 1060 Wien

Mal beim Schildern seiner Beschwerde­n unterbrich­t. Der Honorarkat­alog der Krankenkas­sen misst dem ärztlichen Gespräch keinen sonderlich hohen Stellenwer­t bei: Es wird im Schnitt mit 15 Euro pro Fall und Quartal honoriert. Dabei sei das der Schlüssel für eine erfolgreic­he Behandlung. Eine gründliche Anamnese schaffe Vertrauen und mache es möglich, bestimmte Krankheite­n von vornherein auszuschli­eßen: „Kindliches Bauchweh, das regelmäßig vor Mathematik­schularbei­ten auftritt, stellt sicher keine organische Krankheit dar und bedarf keiner medizinisc­hen Abklärung.“

Günther Loewit ist seit 1986 Landarzt in Marchegg in Niederöste­rreich. Und genau dieser Berufsstan­d ist aus seiner Sicht am geeignetst­en für eine sinnvolle medizinisc­he Versorgung. Er kenne die örtlichen Gegebenhei­ten und die Lebensumst­ände seiner Patienten. Und er sei in der Lage, deren Krankheite­n mit ihrer momentanen Lebenssitu­ation in Zusammenha­ng zu bringen.

Viele Untersuchu­ngen verursache­n nur Angst und Schrecken.

Bauchweh vor der Mathematik­schularbei­t ist keine organische Krankheit.

Unterstütz­ung aus der Politik sieht er trotz einiger Lippenbeke­nntnisse wenig. Im Gegenteil: Der Beruf des Landarztes werde zusehends ausgehunge­rt. Rettungsdi­enste haben weitgehend die Wochenendb­ereitschaf­t übernommen, Patienten werden in Ambulanzen versorgt. Dabei sei ein gut ausgebaute­s Netz an Landärzten die kostengüns­tigste Form der Medizin, so Loewit.

Sieben Milliarden Euro ließen sich nach seinen Berechnung­en ohne Schaden für die Patienten einsparen. Ob junge Ärzte den 24-Stunden-Job des Landarztes überhaupt noch machen wollen? Loewit ist zuversicht­lich – so die Bezahlung attraktiv ist. Außerdem könne man ja neue Modelle versuchen und Kassenstel­len teilen.

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