Die Presse am Sonntag

»Ich wollte vergessen, ich wollte weit weg«

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Man durfte nicht allein sein. Nun war man ja nicht allein. Zwangsarbe­iter und Häftlinge waren zusammenge­pfercht, zusammenge­drängt, aber da ging es um etwas anderes, vielleicht reichen Worte gar nicht aus, um die Suche nach diesem menschlich­en Moment zu beschreibe­n. Helga PollakKins­ky sagt: „Sie brauchen immer jemanden. Als Einzelpers­on überleben Sie das kaum.“Im Durchgangs­zimmer wollte sie nicht neben dem Mädchen schlafen, das vermutlich Tuberkulos­e hatte, Pollak-Kinsky kannte sie noch aus Theresiens­tadt. Da rief ein Mädchen vom anderen Stockbett: „Kommst du zu mir?“Man musste ja zu zweit im Bett liegen. Sie war nur etwas älter als Pollak-Kinsky selbst, und sie war sanft zu ihr. „Sie hat mich wirklich betreut wie eine ältere Schwester.“Sie waren nicht allein.

Es war spät im Jahr 1944, in Oederan, einem Außenlager des KZs Flossenbür­g, wo die Minderjähr­ige Helga Pollak Zwangsarbe­it verrichten musste.

Etwas tut Pollak-Kinsky leid. Dieses Mädchen hat sie aus den Augen verloren. An einen Namen erinnerte sie sich nicht mehr, sie wusste nur, woher sie stammte: Böhmen. Nach dem Zerfall der Tschechosl­owakei hat sie die Geschehnis­se in tschechisc­hen Zeitungen veröffentl­ichen lassen, aber es meldete sich niemand. Dabei wollte sich PollakKins­ky unbedingt bedanken. Denn einmal, in Oederan, kam dieses Mädchen aus Böhmen unverhofft und des Nachts zu einem zweiten Teller warme Suppe, und sie brachte das Essen ins Bett, um zu teilen. Eine Geste, so groß, dass sie Pollak-Kinsky nie losgelasse­n hat.

In ihrem geräumigen und gemütliche­n Wohnzimmer an den Ausläufern Wiens zeigt der Blick durch die Fenster einen kleinen Garten im Winterschl­af. Pollak-Kinsky nimmt am Rand ihrer Couch Platz, es duftet nach Espresso. Als sie Ende der 50er-Jahre nach Wien zurückkehr­te, wo sie bis zum „Anschluss“ihre Kinder- und Jugendjahr­e verbracht hatte, war die Stadt so trist, grau die Häuser, grau die Stimmung. Sie habe den Kontakt zu den Menschen lang nicht gesucht, erzählt Pollak-Kinsky, „weil ich in jedem einen Täter oder Mitläufer gesehen habe“. Mit wenigen Eltern der Freunde ihrer beiden Kinder kamen Freundscha­ften zustande, einer dieser Väter war im Widerstand.

Es dauerte ein Jahrzehnt, bis Pollak-Kinsky in Wien wieder so etwas wie Wohlgefühl verspürte. Als sie in ihre jetzige Wohnung zog, entstand mit den Nachbarn eine gute Gemeinscha­ft. Die Türen waren stets offen, und wo auch immer alle Kinder nach dem Spielen hineinstür­mten, dort bekamen sie dann ihr Essen.

Der Zug fuhr nie ab. Helga Pollak wurde 1930 in Wien geboren. Ihr Vater Otto betrieb gemeinsam mit seinem Bruder Karl das Konzertcaf­e´ Palmhof nahe dem heutigen Westbahnho­f. Ein „typischer Kaffeehaus­mensch“sei der Vater gewesen, eine bekannte Persönlich­keit, der unterwegs von allen herzlich gegrüßt wurde, „auch vom Polizisten, der am Gürtel den Verkehr regelte“. Das Cafe´ wurde 1938 arisiert, der Vater schickte die Tochter in seine Geburtssta­dt Kyjov, wo sie in die tschechisc­he Schule eingeschri­eben wurde. Erst drei Jahre später kam der Vater nach – er hatte im Ersten Weltkrieg ein Bein verloren –, während die Mutter als Dienstboti­n in England anheuern konnte. Nach England sollte auch Helga Pollak mit einem Kindertran­sport kommen. Doch dieser Zug fuhr nie ab.

Zwölf Jahre alt war sie, als sie 1943 mit ihrer Familie in das KZ Theresiens­tadt deportiert wurde.

Mit zwölf Jahren wurden sie und ihre Familie in das KZ Theresiens­tadt deportiert.

In ihrem kleinen Garten draußen hängt ein Mistelzwei­g von einem Holzbalken, eine dünne Frostdecke überdeckt den Boden.

Helga Pollak-Kinsky spricht klar und ruhig, sie hat wache

 ?? Clemens Fabry ?? Helga Pollak-Kinsky überlebte die Shoah und kehrte Ende der 1950er-Jahre nach Wien zurück.
Clemens Fabry Helga Pollak-Kinsky überlebte die Shoah und kehrte Ende der 1950er-Jahre nach Wien zurück.
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