Kampf gegen Corona als politische Waffe
Abschottung oder Ausbreitung? Südamerikas Staatschefs versuchen die Covid-19-Gesundheitskrise für ihre politischen
Ziele auszunutzen.
Als im Jänner die ersten Nachrichten über Covid-19 eintrafen, wähnte sich Amerikas Süden sicher. Doch als der Keim Italien befiel, wussten die Präsidenten auf dem Subkontinent, dass ihre fragilen Staatswesen bald vor einer existenziellen Prüfung stehen würden. Dass sie versuchen müssen, die Pandemie mit ihren politischen Zielen in Einklang zu bringen; oder sich bemühen müssen, die Infektionswelle eiskalt auszunutzen.
Jair Bolsonaro
„Was soll ich denn tun? Ich heiße zwar Mesias, aber Wunder wirken kann ich nicht“. So antwortete Jair Mesias Bolsonaro Mitte der Vorwoche, als Journalisten wissen wollten, warum Tag für Tag mehr Menschen in Brasilien sterben. Mit aller Wucht breitet sich das Coronavirus aus und bringt das Gesundheitssystem in vielen Teilen des 210-Millionen-Landes jenseits aller Belastungsgrenzen. Die Opferzahlen steigen schnell, bis Samstag starben in Brasilien mehr als 6000 Menschen. Nirgendwo ist die Ansteckungsquote höher, errechnete das Imperial College in London.
Dabei ist die entscheidende Frage eher, was Bolsonaro tun will. „Von Anfang an habe ich versucht, Leben und Beschäftigung hier zu schützen“, behauptet der Präsident, der seit Wochen gegen die Quarantänemaßnahmen rebelliert, mit denen Gouverneure und Bürgermeister die Pandemie eindämmen wollen. Immer wieder brach der Ex-Militär aus dem Regierungspalast aus, um Läden zu besuchen, Demonstranten zu begrüßen und vor TV-Kameras in seine Hände zu husten.
Für dieses Benehmen gibt es nur zwei Erklärungen: Entweder ist Bolsonaro ein Psychopath oder ein Hasardeur. Viele Leitartikler neigen zu Option eins. Aber andere sehen Bolsonaro in einer ähnlichen Situation wie USPräsident Donald Trump. Beide wollen ihre Völker schnellstmöglich durchseuchen, um vor wichtigen Stichtagen die sogenannte Herdenimmunität zu erreichen. Bolsonaro weiß, dass keine Quarantäne Brasiliens Favelas schützen kann, weil soziale Distanz dort einfach nicht funktioniert.
Ihm ist klar, dass so bald kein Impfstoff bereitstehen wird. Und er warnt, dass ein langer Lockdown vor allem den informellen Sektor treffen wird, aus dem er, mithilfe tausender Freikirchen, erheblichen Zuspruch bei der Wahl 2018 erhalten hat. Bolsonaro will diesen Rückhalt nicht verlieren und mobilisiert zu Märschen gegen Parlament und Gouverneure, deren Quarantänen die Ausbreitung bremsen. Bolsonaro weiß, dass ihm nur noch acht Monate bleiben, um von der politischen Abschussliste zu kommen.
Die Erklärung liegt in Brasiliens Verfassung. Sollte ein Präsident nach der Hälfte seines Mandats seines Amtes enthoben werden, übernähme dessen Vize und das Parlament bliebe in Funktion. Diese Konstellation, die allen Abgeordneten ihre kommoden Bezüge bis zum Legislaturende sichern würde, begänne am 1. Jänner 2021. Nachdem der oberste Gerichtshof vorigen Mittwoch Ermittlungen gegen den Präsidenten zuließ, muss dieser mit einem Impeachment rechnen. Aber er kann zumindest darauf zählen, bis Jahresende Zeit zu haben. Um die Wirtschaft wieder anzufahren und die Gunst der Brasilianer zurückgewinnen muss Covid-19 schnell verschwinden – notfalls auch in Massengräbern.
Alberto Fern´andez
Als ganz Argentinien stillgelegt wurde, waren drei Menschen am Coronavirus gestorben, 128 Personen positiv getestet worden und die Präsidentschaft von Alberto Ferna´ndez begann. Seitdem er im Dezember das Präsidentenamt übernommen hatte, fragten sich alle, wer das Land wohl nun regiert: Der verbindliche Ferna´ndez oder doch seine Vize, die kapriziöse Ex-Präsidentin Cristina Kirchner, die ihren vormaligen Kabinettschef auf einer gemeinsamen Wahlliste ins Amt gebracht hatte.
Seitdem der Präsident nun eine „soziale, präventive und obligatorische Isolierung“ab dem 20. März ausrief, war von Frau Kirchner kein Satz zu hören. Dafür von Ferna´ndez umso mehr. In unzähligen Interviews, Homestories und „social-network-streams“verkündete der Präsident, dass ihm das Leben der Argentinier wichtiger sei als ein paar Prozentpunkte weniger im Haushalt. Das gefiel zunächst, auch weil sich die Opposition in den Kampf gegen den Keim einreihte. Nach zwei Wochen Quarantäne meldeten die Demoskopen fast 80 Prozent Zustimmung für Ferna´ndez – mehr als Cristina Kirchner jemals erzielt hatte.
Das frühe Abschalten trug Früchte: Bis Freitagabend registrierte das 45-Millionen-Land nicht mehr als 220 Covid-19-Todesfälle. Viele Provinzen melden seit Wochen keine Neuerkrankungen. Das Virus zirkuliert fast nur noch in Buenos Aires und Umgebung.
Aber dieser Erfolg ist teuer: Jede Woche Quarantäne kostet den Staat etwa ein Prozent seines Bruttoinlandsproduktes. Viele Firmen, von der Rezession 2018/19 schwer gezeichnet, kamen schon Ende März ins Schlingern, zwei Drittel aller Unternehmen haben um Hilfe eines Staates angesucht, der bereits 14 Millionen Bürgern Gehalt,
Rente oder Sozialhilfe zahlt. Weitere acht Millionen Menschen, die kein Auskommen mehr in der Schattenwirtschaft finden, sollen nun auch Hilfe bekommen, während die Steuereinnahmen einbrechen. Ferna´ndez bleibt nur noch die Notenpresse.
Nach 51 Tagen „obligatorischer Isolierung“wird Ferna´ndez am 11. Mai sein Land wieder irgendwie öffnen müssen. Bereits jetzt meldeten mehrere Armutsviertel mehr Infektionen. Die Kurve könnte schnell wieder steigen. Hungerproteste könnten aufflammen, die Umschuldungsverhandlungen scheitern und den neunten Staatsbankrott auslösen. Die QuarantänenRuhe könnte sich bald verflüchtigen. Und Cristina Kirchner?
Nicol´as Maduro
Drei Personen informieren die Venezolaner über das Fortschreiten des Virus in ihrem Land: Präsident Nicola´s Maduro, Vizepräsidentin Delcy Rodriguez oder deren Bruder Jorge, der Informationsminister. Der Gesundheitsminister kommt nicht zu Wort, das ist ein klares Signal: Pandemie ist Politik.
Am 13. März hat Nicola´s Maduro den Ausnahmezustand ausgerufen und sein Volk in dessen Wohnungen festgesetzt, obwohl täglich Strom und Wasser ausfallen, obwohl 80 Prozent der Bevölkerung das Geld für Nahrungsmittel fehlt, die immer spärlicher werden, weil in dem Land mit den größten Ölreserven der Welt das Benzin fast zur Neige gegangen ist.
Menschenrechtler beklagen, dass das Regime, aber auch lokale Gouverneure und Bürgermeister die Pandemie als Vorwand für eine totale Unterdrückung des Volkes nutzen. In ihren Lageberichten präsentieren Maduro und die beiden Rodriguez Zahlen, die einen beinahe linearen Ansteckungsverlauf suggerieren – ein Phänomen, das es sonst nirgendwo gibt. Offiziell verzeichneten die Behörden am Wochenende zehn Tote und 335 Infizierte. Insgesamt habe das Land 15.000 Tests pro Million Einwohner durchgeführt, die weitaus höchste Zahl Lateinamerikas.
Doch laut dem Infektologen Julio Castro wurden nicht mehr als 198 PCRTests pro Million Einwohner realisiert. Nur ein Labor in Caracas könne diese Proben untersuchen, zwischen 85 und 95 pro Tag. Der Mediziner Castro ist Mitglied einer Expertenkommission, die den Oppositionsführer Juan Guaido berät. Er gehört zu den wenigen Ärzten, die überhaupt sprechen. Denn die Behörden bestrafen Ärzte und Pflegekräfte, die über die Lage in einem Land berichten, das gerade 80 funktionierende Beatmungsgeräte besitzt.
Maduros jetzige Macht könnte freilich von begrenzter Dauer sein, denn die akute Benzinknappheit unterbindet die Lebensmittelverteilung und der totale Absturz der Ölpreise bringt das Land selbst um die Einnahmen vom Schwarzmarkt. Venezuelas Verheerung ist nicht das Werk eines Virus.