Das Parfüm der Erde
Es hat endlich geregnet. Viel zu wenig natürlich, aber immerhin, es war ein Anfang. Der einsetzende Regen ist der Sehnsuchtsmoment des Gärtners, nichts auf der Welt riecht besser als er.
Die Vorstellung von reinem Glück, die kann zum Beispiel so aussehen: Ein warmer Tag im Frühling. Es kann auch Sommer sein. Seit Wochen hat es nicht geregnet. Die Natur ist durstig geworden, auf Blättern liegt eine feine Schicht Staub. Die Pflanzen lechzen nach Wasser, sogar die Bäume sind schlapp, das Gras raschelt, wenn man darüber geht, es ist braun geworden. Dann trübt sich der Himmel ein. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist es bereits Nachmittag, da kommt das immer wieder vor. Noch wagt man nicht zu hoffen, aber dann ist doch ein feiner Luftzug zu spüren, und er bringt eine Ahnung von Regen mit sich.
„Nein“, sagen die Nachbarin und ich in solchen Situationen, schon aus Prinzip. Fast sicher stehen wir am Zaun, beide mit dem Gartenschlauch in der Hand. „Nein“, sagen wir, „es wird wieder nix.“Wir gießen weiter, beäugen den Horizont. Verfinstert er sich? Wenn die ersten Tropfen fallen, wollen wir immer noch nicht daran glauben. „Wirst sehen“, sagt die Nachbarin, „das zieht wieder vorbei.“Jetzt befinden wir uns in der einzigartigen Phase des Regenduftes, den die Inder „mitti ka attar“nennen, „das Parfum der Erde“. Die Tropfen fallen auf den staubigen Boden. Winzige Lacken bilden sich, mit jedem Tropfen entstehen Bläschen. Sie saugen das Aroma der Erde auf, und der Wind trägt es durch die Luft in unsere Nasen. Und dann kommt tatsächlich der lang erhoffte Regen, und dieses Gefühl der Zufriedenheit ist mit wenig anderem vergleichbar.
„Manche Menschen können den Regen spüren. Andere werden nur nass,“meinte Musiker Bob Marley, der in seiner jamaikanischen Heimat mit den tropischen Güssen des Nordostpassats vertraut war. Manche mögen den Regen nicht. Andere beglückt er, egal in welcher Erscheinungsform. Als irischer Sprühregen, als plötzlicher Wolkenbruch an einem Hundstag, als Schnürlregen in barocker Altstadt und als Landregen, weil er den Gärtner in eine vorübergehende Phase der Kontemplation zwingt. Navarre Scott Momaday, nordamerikanischer Schriftsteller und Literaturprofessor an der Stanford-Universität, beschreibt den Regen im trockenen Südwesten der USA als Ereignis. Dort wuchs er als Stammesmitglied der Kiowa auf: „Als ich ein Junge war, ritt ich oft über die rote und gelbe und purpurfarbene Erde westlich des Jemez Pueblo. Mein Pferd war ein kleiner Rotschimmel, schnell und mühelos zu reiten. Ich ritt durch die Dünen, vorbei an den Tafelbergen und Klippen, hinunter in Canyons
und ausgetrocknete Bachbetten. Ich lernte dieses Land kennen, nicht wie ein Reisender, der sich an bestimmten Merkmalen orientiert, die er in der Ferne sieht, sondern viel echter und inniger, zu jeder Jahreszeit und aus tausend verschiedenen Blickwinkeln. Noch immer spüre ich die Bewegung meines Pferdes und höre den Klang seiner Hufschläge. Ich weiß, welch ein Gefühl es ist, an einem heißen August- oder Septembertag in eine kühle, erfrischende Regenwand hineinzureiten.“
Fliegende Flüsse. Hätte er doch auch den Duft des Regens beschrieben, der den Indern das Erdparfum ist. Die Griechen nannten ihn Petrichor. Petri, der Stein. Ichor, die Flüssigkeit, die durch die Adern der Götter fließt. In Südamerika kommt die Regenzeit mit den „Rios voadores“, den fliegenden Flüssen. In Amazonien schwitzten Dschungelbäume je bis zu tausend Liter Wasser pro Tag aus. Über dem gigantischen Wald saugt die Sonne die Feuchtigkeit in die Atmosphäre. Die Winde des Atlantik scheuchen die feuchten Luftmassen landeinwärts, dann, wie himmlische Flüsse, entlang der Andenkette bis nach
Feuerland und tränken den Kontinent.
Zum Schluss noch Robert Musil, der seinen berühmtesten Roman, „Der Mann ohne Eigenschaften“, mit der Absenz des Regens begann: „Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts und, einem über Russland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur Temperatur des kältesten wie des wärmsten Monats und zur aperiodischen monatlichen Temperaturschwankung. Der Auf- und Untergang der Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel des Mondes, der Venus, des Saturnringes und viele andere bedeutsame Erscheinungen entsprachen ihrer Voraussage in den astronomischen Jahrbüchern. Der Wasserdampf in der Luft hatte seine höchste Spannkraft, und die Feuchtigkeit der Luft war gering. Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahres 1913.“
Bienen und andere Insekten saugen logischerweise ebenfalls Wasser auf, sie lassen sich zu diesem Zweck am Liebsten an feuchten Teichrändern nieder, auf Moos und anderen sicheren Untergründen, oder sie holen sich ihre Wasserration aus Tau- und Regentropfen.
Für dürre Zeiten ist eine Insektentränke schnell hergestellt. Die Zutaten finden sich in jedem Haushalt. Eine Schale, flache Steine, die über die Wasseroberfläche ragen, vielleicht Moos, und die tägliche Kontrolle, ob genug Feuchtigkeit vorhanden ist. Wenn durstige Bienen und Wespen den Wasserhahn umschwirren, um an dem daran hängenden Tropfen zu trinken, ist es Zeit, zur Tat zu schreiten. Auch Balkongärtnerinnen und Terrassengärtner werden allerlei Getier anlocken, wenn zumindest ein wenig Nass, in geeigneter Form dargeboten, vorhanden ist.