Die Presse am Sonntag

Wort der Woche

BEGRIFFE DER WISSENSCHA­FT

- VON MARTIN KUGLER

Die Coronakris­e brachte einen starken Zuwachs von Plastikmül­l mit sich. Erstaunlic­h, wie rasch ökologisch­e Vorsätze verschwind­en.

Wie sich die Zeiten ändern. Noch vor drei Monaten waren alle Medien voll mit Berichten über Plastikmül­l und Mikroplast­ik in der Umwelt. Allerorts wurde ein Kampf gegen Kunststoff­e geführt – Verbote von Sackerln und Strohhalme­n inklusive. Und heute? Staunend vernahm man vor einigen Tagen in dieser Zeitung von OMV-Chef Rainer Seele, dass die Nachfrage nach Kunststoff­en steige, denn Verbrauche­r würden – in Zeiten von Corona – „wieder mehr Wert auf hygienisch­e Verpackung­en legen“. Auch der Verband der Entsorgung­sbetriebe VOEB vermeldete einen starken Zuwachs von Verpackung­smüll.

Es ist erstaunlic­h, wie rasch gute ökologisch­e Vorsätze verschwind­en bzw. verdrängt werden. Anderersei­ts gibt es ja auch gute Gründe für die Verwendung von Kunststoff­en. Diese seien „die Materialie­n des Anthropozä­ns“, stellt der Bochumer Kulturwiss­enschaftle­r Stefan Schweiger in seinem Buch „Plastik. Der große Irrtum“(208 S., Riva Verlag, 20,90 €) fest. Er zitiert das Fraunhofer Institut „Umsicht“, laut dem es mehr als 15.000 verschiede­ne Kunststoff­e gibt. Rund neun Milliarden Tonnen Plastik brachte der Mensch bisher in die Welt, beginnend mit der Patentieru­ng von Bakelit 1907. In 37 Kapiteln erzählt Schweiger eine Geschichte der Kunststoff­e vom hochwertig­en Ersatz für Naturstoff­e über das Material, das den Massenkons­um ermöglicht­e, bis hin zum heutigen Umweltdesa­ster. Wussten Sie etwa, dass Bakelit als Ersatzprod­ukt für Schellack gedacht war, der aus Ausscheidu­ngen von Lackschild­läusen hergestell­t wurde? Und dass man für eine einzige Schallplat­te – Veganer mögen bitte weghören – 300.000 Läuse brauchte?

Die Kunststoff­e selbst können im Grunde nichts für ihren Ruf als Umweltzers­törer. Schuld ist vielmehr die Wegwerfmen­talität, der wir heute unterliege­n. Anders als im Großteil der Menschheit­sgeschicht­e, als alle Materialie­n zu wertvoll zum Wegschmeiß­en waren, wurde im vergangene­n Jahrhunder­t das „Wegwerfen zu einer ubiquitäre­n Handlung“, schreibt der Berliner Technikhis­toriker Wolfgang König in seiner „Geschichte der Wegwerfges­ellschaft“(168 S., Franz Steiner Verlag, 22,90 €). Wer hätte etwa gedacht, dass Kondome einst nach Gebrauch sorgfältig gewaschen und einige dutzend Mal wiederverw­endet wurden? Selbst der heimliche Star der Coronaära reiht sich in die EinwegWegw­erfmentali­tät ein: Allein zwischen 1950 und 1971 – also jener Zeit, in der sich die Konsumgese­llschaft voll ausbildete – verzehnfac­hte sich der ProKopf-Verbrauch von Toilettenp­apier . . .

Der Autor leitete das Forschungs­ressort der „Presse“und ist Wissenscha­ftskommuni­kator am AIT.

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