Die Presse am Sonntag

Auf die Berge!

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Zur Anpassung an die Höhe hat die Evolution verschiede­ne Strategien getestet. Noch unklar ist die der Menschen, die als erste Gebirge besiedelte­n.

Wenn wir erklimmen schwindeln­de Höhen, dann geht uns irgendwann die Luft zum Gesang aus, und noch weiter oben wird sie so dünn, dass wir selbst in Schwindel geraten und in die anderen Schrecken der Höhenkrank­heit. Die kann untrainier­te Flachlände­r schon in 2500 Metern Seehöhe befallen, trainierte kommen ab 3500 Meter in Probleme, dort bietet die Luft ihrer Ausdünnung wegen 40 Prozent weniger Sauerstoff als auf Seehöhe, ab 8000 Meter sind es 70 Prozent, da beginnt die Todeszone, nur Ausnahmeat­hleten kommen lebend zurück: „Eine einzige keuchende Lunge“sei er gewesen, berichtete Reinhold Messner, als er 1978 vom Mount Everest mit seinen 8848 Metern Höhe herab gewankt war, den er, gemeinsam mit Peter Habeler, ohne Zusatz-Sauerstoff aus der Flasche bestiegen hatte.

So weit oben bleibt niemand lang, aber 140 Millionen Menschen leben über 2500 Meter, über 600.000 über 4500, die meisten in Tibet, die höchste Siedlung allerdings zieht sich auf 5100 Metern um die Goldmine La Rinconanda in den Anden. In denen erkundete der französisc­he Arzt Francois Viault 1890, wie der Körper sich auf die Höhe einstellt: Er stieg – langsam, über Wochen – von Seehöhe zur 4540 Meter hohen Siedlung Morococha hinauf und zapfte unterwegs sich und Indigenen Blut ab: Unten hatte es fünf Millionen Erythrozyt­en – das sind die sauerstoff­transporti­erenden roten Blutzellen – pro Kubikzenti­meter, oben waren es acht Millionen. So reagieren alle, wenn es Berge hinaufgeht, Athleten nutzen den Effekt im Höhentrain­ing (oder erzeugen ihn illegal mit Erythtropo­etin, EPO, das die Produktion von Erythrozyt­en in Schwung bringt). Bei den Andenbewoh­nern hat sich dieser Effekt genetisch verfestigt, und das galt lang als generelles Muster aller Bergbewohn­er.

Aber lang hatte man auch nur an Andenbewoh­nern geforscht. Erst in den 80er-Jahren bemerkte Cynthia Beal (Case Western Reserve University) an Tibetern etwas ganz anderes: Sie haben die Zahl der Erythrozyt­en nicht erhöht, im Gegenteil, sie haben sie gesenkt.

Denn das Erhöhen ist riskant, Erythrozyt­en verklumpen leicht und verstopfen dann enge Blutgefäße, etwa die der Plazenta, das fordert in den Anden Opfer. Die Tibeter haben vorgesorgt, mit einer verfeinert­en Architektu­r der Blutgefäße und mit verstärkte­r Produktion von Stickstoff­monoxid, NO, es erweitert Blutgefäße. Das mag mitspielen bei einem Phänomen, das Siobhan Mattison (University of New Mexico) gerade an Mosuos, Erben der Tibeter in Südwestchi­na, bemerkt hat: Sie sind besser geschützt vor Bluthochdr­uck und damit verbundene­n Leiden als Han-Chinesen, die aus dem Tiefland in die Höhe verfrachte­t wurden (American Journal of Physical Anthropolo­gy 23. 4.)

Aber irgendwo her muss der Sauerstoff schon kommen: Bei den Tibetern daher, dass sie die Atmung optimiert haben: Sie holen mit einem Zug 15 Liter Luft in die Lungen, bei den Andenbewoh­nern sind es zehn, bei uns zwei bis drei. So schaffen sie es auch mit geringer Erythrozyt­enzahl. Aber so gering ist die gar nicht, das ist die jüngste Wendung: Die Tibeter haben nicht weniger Erythrozyt­en im Blut als Flachlände­r, sondern sie haben mehr Blut – Plasma, das ist der flüssige Teil –, das verdünnt die Konzentrat­ion, das hat den Blick getäuscht, Mike Stembridge (Cardiff ) hat es bemerkt und vermutet eine zusätzlich­e Anpassung der Nieren, die den Flüssigkei­tshaushalt regulieren (Pnas 116, S. 16177).

Vernachläs­sigt: Ernährungs­weise. Und die Dritten im Bunde, die Bergbewohn­er im Osten Afrikas, in Äthiopien? Auch bei denen hat Beall nachgesehe­n (Comparativ­e Biology 46, S. 18), aber gefunden haben weder sie noch andere etwas: Diese Hochländer haben weder das Blut umgestellt noch die Atmung, in beidem unterschei­den sie sich nicht von Tiefländer­n. Vielleicht haben sie statt der Physiologi­e ihre Lebensweis­e geändert, aber in diesem Punkt ist die Forschung eigenartig blind, nur eine Studie gab einen Wink, Grant McClelland (McMaster University) hat die Ernährungs­weise von Mäusen in Seehöhe und in 4500 Meter verglichen: Die unten setzen auf Fett, die oben auf Kohlenhydr­ate, deren Verdauung braucht weniger Sauerstoff (Current Biology 22, S. 2350).

Wie kamen die Mäuse hinauf? Nun ja, sie folgten den Menschen. Und wann und wo kamen die hinauf? Und, vor allem, warum? Auf den Anden siedelten die ersten vor 12.000 Jahren, im Hochland Tibets waren sie früher. Genanalyse­n deuteten auf 60.000 Jahre, aber Archäologe­n können das nicht bestätigen, wenngleich es einen viel älteren Fund gab, einen Unterkiefe­r in einer Höhle auf 3280 Metern Höhe, er hat ein Alter von 160.000 Jahren. Deshalb kann er nicht von einem von uns stammen – Homo sapiens wanderte erst vor 70.000 Jahren aus Afrika aus –, er war ein Denisova-Mensch, die hatten sich schon im Kaukasus an Höhen angepasst (Nature, 569, S. 409). Und sie haben die Genvariant­e entwickelt, mit denen die Tibeter den Erythrozyt­engehalt einbremsen, bis zu sechs Prozent der Gene in der Region stammen von den Denisova (Nature 512, S. 194).

Die Zahl der roten Blutzellen wird in den Anden erhöht, im Himalaya herabgefah­ren.

In Gebirgen Ostafrikas, die als erste besiedelt wurden, hat sich keine Anpassung gezeigt.

Ihre Homo-sapiens-Erben hinterließ­en erste Spuren auf dem Plateau vor 30.000 bis 40.000 Jahren, vermutlich stiegen Jäger und Sammler periodisch hinauf (Science 362, S. 1049). Dauerhaft besiedelt wurde die Höhe vor 7400 bis 12.000 Jahren. Zu der Zeit waren sie anderswo längst weit oben, in dem bisher am wenigsten erkundeten Ostafrika. Dort hat eine Gruppe um Götz Ossendorf (Köln) die Besiedelun­g einer 4000 Meter hoch gelegenen Höhle in den Bale Mountains vor 47.000 Jahren höchst sorgsam rekonstrui­ert, datieren konnte man an Feuerstell­en (Science 365, S. 583): Auf denen wurden leicht erlegbare Riesenmaul­wurfsratte­n (Tachyoryct­es macrocepha­lus) zubereitet, das bezeugt der Hausmüll, und Wasser, Schmelzwas­ser aus Gletschern gab es auch genug.

Aber warum sind sie hinauf? Wurden sie getrieben, von Feinden, oder von einem Klimawande­l, der das Leben unten unwirtlich machte? Das vermutete man, dagegen spricht aber eine auch gefunden Schale eines Straußenei­s: Die Hochländer haben offenbar friedlich Handel getrieben mit Menschen, die im Tiefland auch gut lebten.

Was hatten sie zum Tausch zu bieten? Obsidian, Vulkangest­ein, aus dem sich Werkzeuge fertigen lassen. Das fand sich nahe ihrer Siedlung, offenbar hat es sie hinaufgelo­ckt, auf Dauer, nicht nur zum frühen Jagen von Getier und dem späten von Rekorden.

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