Die Presse am Sonntag

Die vielen Gesichter der Wahrheit

- VON MIRJAM MARITS

Eine Frau, die sich für den Mord an ihrem Sohn verantwort­en muss: Angie Kim hat mit »Miracle Creek« ein starkes Debüt vorgelegt, das viel mehr ist als nur ein spannender Justizthri­ller.

Miracle Submarine hat Mary es genannt, dieses riesige Ding, in das sich die Patienten hineinsetz­en, um im Inneren mit reinem Sauerstoff versorgt zu werden. Ein Gerät, das aussieht wie ein U-Boot und Wunder vollbringe­n soll – bei Autismus, Behinderun­gen oder auch Unfruchtba­rkeit.

Unumstritt­en ist diese Überdruckt­herapie (die es tatsächlic­h gibt) nicht – aber die Hoffnungen vieler verzweifel­ter Menschen sind groß. Und Marys Eltern, Pak und Young Yoo, die Einwandere­r aus Südkorea, sind voller Zuversicht, mit ihrem Miracle Submarine endlich Geld zu verdienen.

Aber dann geht alles schief. Die hochexplos­iven Sauerstoff­tanks fliegen in die Luft, der achtjährig­e Henry stirbt ebenso wie Kitty, eine fünffache Mutter, mehrere Menschen werden schwer verletzt. Und schnell ist klar: Das tödliche Feuer wurde gelegt, von Elizabeth, Henrys alleinerzi­ehender Mutter, die ihren autistisch­en Sohn mit all seinen belastende­n Besonderhe­iten nicht mehr ertragen hat.

Ein Jahr nach dem Feuer beginnt – und hier setzt auch Angie Kims Roman „Miracle Creek“ein – der Prozess gegen Elizabeth: Die Anklage scheint eindeutig: Elizabeth hatte ein Motiv, die Gelegenhei­t und verhielt sich am Tag der Tat auffällig. Zum ersten Mal war sie nicht wie sonst mit ihrem Sohn im Sauerstoff­tank, sondern spazierte in den Wald, genau dorthin, wo das Feuer gelegt wurde.

Viele Geheimniss­e. Auch einer der ersten Zeugen, Matt, den seine Frau mit ihrem fast besessenen Kinderwuns­ch zur Förderung der Fruchtbark­eit zur Sauerstoff­therapie gezwungen hat, belastet die Angeklagte schwer. Aber schnell wird klar: Alles erzählt er vor den Geschworen­en nicht. Auch Matt, der bei dem Feuer mehrere Finger verloren hat, hat etwas zu verbergen.

Was wie ein (hoch spannender) Gerichtsth­riller beginnt, entwickelt sich schon nach wenigen Seiten, während der Einvernahm­en der ersten Zeugen, zu einem wesentlich tiefgründi­geren Roman, als man es nach Lektüre des Klappentex­tes vermutet hätte – zu einer Geschichte, in der es neben der Frage um Schuld und Unschuld noch um viele

Angie Kim Miracle Creek

Übersetzt von Marieke Heimburger hanserblau

512 Seiten

22,70 Euro

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Tim Coburn Angie Kim: Die amerikanis­che Autorin hat Jus studiert und war als Strafverte­idigerin tätig.
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