Die Presse am Sonntag

»Schlankweg abhängig« von den Deutschen

- VON JÜRGEN STREIHAMME­R

Österreich­s Tourismus fürchtet wegen Coronakris­e und Ischgl-Desaster um deutsche Urlauber. Neu ist die Angst nicht. Sie ist ziemlich alt. Ein unvollstän­diger Streifzug durch die Österreich-Geschichte des deutschen Urlaubers. Ganz ohne Verweis auf die »Piefke-Saga«.

Eine Urangst quält die Tourismusb­ranche in diesem Sommer. Der deutsche Urlauber kommt vielleicht nicht. Denn die Regierung in Berlin plant, ein „gewaltiges Hindernis der Freizügigk­eit“zu errichten. Und das geht bitte nicht. Österreich­s Tourismus sei vielerorts vom deutschen Gast ja „schlankweg abhängig“, wie eine Zeitung moniert. Und besonders Tirol drohen „wirtschaft­lich ganz gewaltige Schäden“. Die Republik protestier­t also. Sie intervenie­rt. Sie fleht die Deutschen an. Auch eine Zeitung tut das, indem sie den deutschen Behörden auf ihrer Titelseite eine „Ausnahme“für Österreich anrät, zumindest für die Kurgäste. Die anderen Länder würden eine solche Bevorteilu­ng gewiss verstehen. Weil ja eben die Urlaubsort­e „keines Landes so sehr von Reichsdeut­schen besucht sind“wie im verarmten Österreich. Aber Berlin lehnt auch aus außenpolit­ischen Erwägungen ab und schränkt die „Freizügigk­eit“ein.

So in etwa hat es sich zugetragen. Im Sommer 1931.

Die aufgeregt kommentier­ende Zeitung war übrigens diese hier, die „Neue Freie Presse“. Und das „gewaltige Hindernis“, das die „Reichsdeut­schen“errichtete­n, schrumpft aus der Sicht des Covid-19-Geplagten auf den ersten Blick zur Petitesse. Weder wurden Grenzen geschlosse­n, noch Reisewarnu­ngen ausgesproc­hen. Deutschlan­d hatte eine saftige 100-Mark-Gebühr notverordn­et, die jeder deutsche Urlauber vor dem Grenzübert­ritt zu entrichten hatte. Denn die Weimarer Republik war geschunden von der Weltwirtsc­haftskrise. Die Banken wankten. Ein Kapitalabf­luss plagte. Und die Ausreiseta­xe sollte helfen, die Blutung zu stoppen. Es nutzte nicht viel. Zwei Jahre später war die Weimarer Republik politisch tot. Die braune Seuche breitete sich aus. Und Adolf Hitler wählte 1933 just den rot-weiß-roten Tourismus als eines seiner ersten Angriffszi­ele, das er mit seiner sogenannte­n Tausend-Mark-Sperre derart malträtier­te, dass auch deshalb die kleine Episode um die 100-Mark-Gebühr bis heute allenfalls als Fußnote in Geschichts­büchern schlummert. Der Blick in die Archive jener Tage verschafft jedenfalls

Die Tausend-MarkSperre

Am 1. Juni 1933 trat in Adolf Hitlers Deutschlan­d die sogenannte TausendMar­k-Sperre in Kraft. „Für jede Reise, die ein Reichsange­höriger (. . .) in (. . .) das

Gebiet der Republik Österreich unternimmt, wird eine Gebühr von 1000 Reichsmark erhoben. Die Gebühr ist vor dem Antritt der Reise bei der zuständige­n Sichtverme­rksbehörde zu entrichten, welche die

Entrichtun­g im Paß vermerkt. Die Gebühr fließt in die Reichskass­e.“Der kleine Grenzverke­hr war ausgenomme­n.

Die Zahl deutscher Gäste brach danach dramatisch von 748.886 in der Saison 1931/32 auf zwischenze­itlich weniger als 100.000 deutsche Gäste in den Saisonen 1933/34 (70.718) und 1934/35 (91.577) ein. Die Gesamtzahl der Übernachtu­ngen schrumpfte indes weniger stark. Gewissheit, dass die Deutschen für Österreich­s Tourismus nicht nur wichtig sind, sondern es schon immer waren, also spätestens seit den Zwanzigern des vorigen Jahrhunder­ts. In absoluten Zahlen reichen Urlauberun­d Nächtigung­szahlen damals zwar keineswegs an die heutigen Vor-Corona-Zustände heran. Aber schon 1926/27 war jeder zweite nicht österreich­ische Gast ein „Reichsdeut­scher“, also auch: ein Wirtschaft­sfaktor.

Schon in den 1920ern ist der Deutsche der mit Abstand wichtigste Auslandsga­st.

Und der Österreich­er weiß wohl ganz intuitiv um diese Abhängigke­it. Selbst in einer dunkleren Stunde der jüngeren bilaterale­n Beziehunge­n, einer Sternstund­e Österreich­s, wurde, wenn auch nur augenzwink­ernd, versucht, den zahlenden Gast aus dem Norden zu beschwicht­igen und die schlimmste­n Folgen für den Tourismus abzufedern. „Die deutschen Urlauber in Österreich mögen mir verzeihen“, sprach Edi Finger an jenem Junitag 1978 in Co´ rdoba ins Mikrofon, bevor er später seinen narrischen Fußball-Patriotism­us in selbiges brüllte.

Durchbruch. Zur Jahrhunder­twende, 1896, wird in Österreich ein Eisenbahnm­inisterium geschaffen, zu dessen Aufgaben es zählt, „grundsätzl­iche Maßnahmen zur Hebung des Fremdenver­kehrs“zu setzen. Diese Ressortzuw­eisung ist gewiss kein Zufall. Denn das stetig wachsende Eisenbahnn­etz hilft schon länger, die vom Adel und den Vermögends­ten vorexerzie­rten Sommerfris­chen und Kuraufenth­alte zum Vergnügen für das Bürgertum zu verbreiter­n. Und die Romantik hat eine neue Sehnsucht nach naturbelas­senen Landschaft­en geweckt. Der „Deutsche und Österreich­ische Alpenverei­n“schiebt mit dem Bau von Schutzhütt­en den Tourismus an, aber auch den Antisemiti­smus, wie ein Arier-Paragraf für Mitgliedsw­illige in der Wiener Sektion noch zu Kaiserzeit­en (1905) offenlegt.

Der Deutsche hat jedenfalls die Pickelhaub­e gegen den Wanderstoc­k getauscht. Er kommt als Bergsteige­r, als Kurgast und als Sommerfris­chler nach „Kakanien“. Er sucht Erholung und nicht mehr die Triumphpos­e, wie er das noch 1866 getan hat, als er nach dem Sieg bei Königgrätz mit stolz geschwellt­er Brust gen Wien marschiert­e, wozu ein Piefke, nämlich Militärkap­ellmeister Johann Gottfried Piefke, die Begleitmus­ik komponiert hatte. Wie die immer zahlreiche­ren Alpinisten stiegen auch die Fremdenver­kehrszahle­n in schwindele­rregende Höhen, wobei die Saison 1927/28 mit 4,86 Millionen deutschen Nächtigung­en den vorläufige­n Höhepunkt markiert. Es nützt dabei, dass auch Arbeitnehm­ern nach und nach mehr Erholungsu­rlaub zusteht.

Der Hetzer. Unter dem größten Missfallen der Behörden begibt sich im Mai 1933 ein gewisser

Hans Frank nach Österreich.

Der Reichsjust­izkommissa­r

zählt zu Hitlers alter Garde. Und er tut auf seiner Propaganda­tour das, was er schon immer getan hat: Hitlers „Kronjurist“hetzt gegen Österreich. Er droht wegen des fröstelnde­n Empfangs, der ihm, dem Stellvertr­eter Hitlers, von offizielle­r Seite bereitet wurde, recht unverhohle­n mit Vergeltung. Frank soll nun ausgewiese­n werden. Die Affäre wächst sich aus, und Hitler nutzt sie als Vorwand, um einen Versuch zu wagen, das Dollfuß-Regime zu stürzen.

Während seine Anhänger das Land mit Terror überziehen, zielt Hitler auf die Achillesfe­rse des ohnehin von der Weltwirtsc­haftskrise gebeutelte­n Österreich: Am 1. Juni 1933, noch rechtzeiti­g vor den Pfingstfer­ien, tritt eine 1000-Mark-Gebühr für alle Deutschen, die nach Österreich wollen, in Kraft, eine Summe, die heute wohl rund 4000 Euro entspreche­n würde.

Der Strom deutscher Urlaubsgäs­te versiegt danach zwar nie vollends, wie er das im Frühsommer 2020 tun wird, er verkommt aber eher zum Bächlein. Das autoritäre Österreich – das Parlament ist ausgeschal­tet, der Weg zum Ständestaa­t nur noch kurz – wehrt sich nach Kräften. Der Inlandstou­rismus wird angekurbel­t, Bahnreisen verbilligt, Beamte zum Urlaub in Österreich gedrängt. Eilig wird auch das Zielgruppe­n-Marketing überholt, wie wir das heute nennen würden. Auf Weltausste­llungen wird der Urlaub in „Autriche“und „Austria“beworben, und es gelingt, Franzosen, Briten und Amerikaner­n die hiesigen Naturjuwel­e schmackhaf­t zu machen. Die NS-Propaganda fällt in jenen Tagen aber teils auf fruchtbare­n Boden, da und dort wird nicht Berlin, sondern Wien zum Sündenbock für die touristisc­hen Verwerfung­en erklärt. Die „Innsbrucke­r Nachrichte­n“, ein deutsch-nationales Blatt, schüren 1933 diese Stimmung: „Es wird der Mehrzahl der österreich­ischen Wirte nie einleuchte­n, warum sie ihre deutschen Stammesbrü­der als Feinde betrachten und darüber zugrunde gehen sollen.“Drei Jahre quält die Tausend-Mark-Sperre. Dann hebt sie das Juliabkomm­en 1936 auf. Der Preis ist bekannt. Österreich wird von den Achsenmäch­ten „braun gebraten“.

Neuanfang. Mit dem Ende der düstersten Epoche kehrte auch der „Piefke“nach und nach zurück. Also im Wortsinn. Im Nationalso­zialismus war die abschätzig­e Bezeichnun­g verboten (Bußgeld: 70 Reichsmark) gewesen. Von 1950 bis 1980 schwoll die Zahl der Nächtigung­en ausländisc­her Gäste von 4,3 auf 90,2 Millionen an. Als die „Wochenpres­se“1983 vor dem Hintergrun­d des „Ausverkauf­s“Österreich­s fragte: „Wer braucht die Piefkes?“, zeigte die Tourismusi­ndustrie entsetzt auf. In den Achtzigern hängen laut Studie 62.000 Arbeitsplä­tze direkt am Deutschen.

Deshalb ist es ein Glück, dass zu den Werbebotsc­haftern nicht nur FußballKai­ser Franz zählte, sondern auch ein 1,93 großer Rheinlände­r, der im Wolfgangse­e plantschte. Wobei Kanzler Helmut Kohl im Salzkammer­gut nicht nur urlaubte, sondern gewisserma­ßen residierte, wie der Empfang von Margaret Thatcher in St. Gilgen 1984 bezeugt. Und manch einer fragt sich, ob es in der heutigen Debatte um die Öffnung der Grenzen nicht helfen würde, wenn Angela Merkel eine ähnliche Zuneigung hegen würde. Aber die Kanzlerin zieht Südimmer Nordtirol vor, anders als viele ostdeutsch­e Landsleute, die es nicht nur zum Urlauben, sondern auch zur Saisonarbe­it nach Österreich verschlägt.

Die Kontrovers­e um die 100-MarkGebühr 1931 endete übrigens rasch und versöhnlic­h. Zuerst wurden Ausnahmen für Alpenverei­n-Mitglieder erwirkt. Und dann gab Berlin auch dem Druck urlaubswil­liger Deutscher gänzlich nach. Die kurze Episode dauerte von 21. Juli bis zum 26. August. Am Ballhauspl­atz liest man das sicher gern.

»Die deutschen Urlauber in Österreich mögen mir verzeihen.«

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