»Schlankweg abhängig« von den Deutschen
Österreichs Tourismus fürchtet wegen Coronakrise und Ischgl-Desaster um deutsche Urlauber. Neu ist die Angst nicht. Sie ist ziemlich alt. Ein unvollständiger Streifzug durch die Österreich-Geschichte des deutschen Urlaubers. Ganz ohne Verweis auf die »Piefke-Saga«.
Eine Urangst quält die Tourismusbranche in diesem Sommer. Der deutsche Urlauber kommt vielleicht nicht. Denn die Regierung in Berlin plant, ein „gewaltiges Hindernis der Freizügigkeit“zu errichten. Und das geht bitte nicht. Österreichs Tourismus sei vielerorts vom deutschen Gast ja „schlankweg abhängig“, wie eine Zeitung moniert. Und besonders Tirol drohen „wirtschaftlich ganz gewaltige Schäden“. Die Republik protestiert also. Sie interveniert. Sie fleht die Deutschen an. Auch eine Zeitung tut das, indem sie den deutschen Behörden auf ihrer Titelseite eine „Ausnahme“für Österreich anrät, zumindest für die Kurgäste. Die anderen Länder würden eine solche Bevorteilung gewiss verstehen. Weil ja eben die Urlaubsorte „keines Landes so sehr von Reichsdeutschen besucht sind“wie im verarmten Österreich. Aber Berlin lehnt auch aus außenpolitischen Erwägungen ab und schränkt die „Freizügigkeit“ein.
So in etwa hat es sich zugetragen. Im Sommer 1931.
Die aufgeregt kommentierende Zeitung war übrigens diese hier, die „Neue Freie Presse“. Und das „gewaltige Hindernis“, das die „Reichsdeutschen“errichteten, schrumpft aus der Sicht des Covid-19-Geplagten auf den ersten Blick zur Petitesse. Weder wurden Grenzen geschlossen, noch Reisewarnungen ausgesprochen. Deutschland hatte eine saftige 100-Mark-Gebühr notverordnet, die jeder deutsche Urlauber vor dem Grenzübertritt zu entrichten hatte. Denn die Weimarer Republik war geschunden von der Weltwirtschaftskrise. Die Banken wankten. Ein Kapitalabfluss plagte. Und die Ausreisetaxe sollte helfen, die Blutung zu stoppen. Es nutzte nicht viel. Zwei Jahre später war die Weimarer Republik politisch tot. Die braune Seuche breitete sich aus. Und Adolf Hitler wählte 1933 just den rot-weiß-roten Tourismus als eines seiner ersten Angriffsziele, das er mit seiner sogenannten Tausend-Mark-Sperre derart malträtierte, dass auch deshalb die kleine Episode um die 100-Mark-Gebühr bis heute allenfalls als Fußnote in Geschichtsbüchern schlummert. Der Blick in die Archive jener Tage verschafft jedenfalls
Die Tausend-MarkSperre
Am 1. Juni 1933 trat in Adolf Hitlers Deutschland die sogenannte TausendMark-Sperre in Kraft. „Für jede Reise, die ein Reichsangehöriger (. . .) in (. . .) das
Gebiet der Republik Österreich unternimmt, wird eine Gebühr von 1000 Reichsmark erhoben. Die Gebühr ist vor dem Antritt der Reise bei der zuständigen Sichtvermerksbehörde zu entrichten, welche die
Entrichtung im Paß vermerkt. Die Gebühr fließt in die Reichskasse.“Der kleine Grenzverkehr war ausgenommen.
Die Zahl deutscher Gäste brach danach dramatisch von 748.886 in der Saison 1931/32 auf zwischenzeitlich weniger als 100.000 deutsche Gäste in den Saisonen 1933/34 (70.718) und 1934/35 (91.577) ein. Die Gesamtzahl der Übernachtungen schrumpfte indes weniger stark. Gewissheit, dass die Deutschen für Österreichs Tourismus nicht nur wichtig sind, sondern es schon immer waren, also spätestens seit den Zwanzigern des vorigen Jahrhunderts. In absoluten Zahlen reichen Urlauberund Nächtigungszahlen damals zwar keineswegs an die heutigen Vor-Corona-Zustände heran. Aber schon 1926/27 war jeder zweite nicht österreichische Gast ein „Reichsdeutscher“, also auch: ein Wirtschaftsfaktor.
Schon in den 1920ern ist der Deutsche der mit Abstand wichtigste Auslandsgast.
Und der Österreicher weiß wohl ganz intuitiv um diese Abhängigkeit. Selbst in einer dunkleren Stunde der jüngeren bilateralen Beziehungen, einer Sternstunde Österreichs, wurde, wenn auch nur augenzwinkernd, versucht, den zahlenden Gast aus dem Norden zu beschwichtigen und die schlimmsten Folgen für den Tourismus abzufedern. „Die deutschen Urlauber in Österreich mögen mir verzeihen“, sprach Edi Finger an jenem Junitag 1978 in Co´ rdoba ins Mikrofon, bevor er später seinen narrischen Fußball-Patriotismus in selbiges brüllte.
Durchbruch. Zur Jahrhundertwende, 1896, wird in Österreich ein Eisenbahnministerium geschaffen, zu dessen Aufgaben es zählt, „grundsätzliche Maßnahmen zur Hebung des Fremdenverkehrs“zu setzen. Diese Ressortzuweisung ist gewiss kein Zufall. Denn das stetig wachsende Eisenbahnnetz hilft schon länger, die vom Adel und den Vermögendsten vorexerzierten Sommerfrischen und Kuraufenthalte zum Vergnügen für das Bürgertum zu verbreitern. Und die Romantik hat eine neue Sehnsucht nach naturbelassenen Landschaften geweckt. Der „Deutsche und Österreichische Alpenverein“schiebt mit dem Bau von Schutzhütten den Tourismus an, aber auch den Antisemitismus, wie ein Arier-Paragraf für Mitgliedswillige in der Wiener Sektion noch zu Kaiserzeiten (1905) offenlegt.
Der Deutsche hat jedenfalls die Pickelhaube gegen den Wanderstock getauscht. Er kommt als Bergsteiger, als Kurgast und als Sommerfrischler nach „Kakanien“. Er sucht Erholung und nicht mehr die Triumphpose, wie er das noch 1866 getan hat, als er nach dem Sieg bei Königgrätz mit stolz geschwellter Brust gen Wien marschierte, wozu ein Piefke, nämlich Militärkapellmeister Johann Gottfried Piefke, die Begleitmusik komponiert hatte. Wie die immer zahlreicheren Alpinisten stiegen auch die Fremdenverkehrszahlen in schwindelerregende Höhen, wobei die Saison 1927/28 mit 4,86 Millionen deutschen Nächtigungen den vorläufigen Höhepunkt markiert. Es nützt dabei, dass auch Arbeitnehmern nach und nach mehr Erholungsurlaub zusteht.
Der Hetzer. Unter dem größten Missfallen der Behörden begibt sich im Mai 1933 ein gewisser
Hans Frank nach Österreich.
Der Reichsjustizkommissar
zählt zu Hitlers alter Garde. Und er tut auf seiner Propagandatour das, was er schon immer getan hat: Hitlers „Kronjurist“hetzt gegen Österreich. Er droht wegen des fröstelnden Empfangs, der ihm, dem Stellvertreter Hitlers, von offizieller Seite bereitet wurde, recht unverhohlen mit Vergeltung. Frank soll nun ausgewiesen werden. Die Affäre wächst sich aus, und Hitler nutzt sie als Vorwand, um einen Versuch zu wagen, das Dollfuß-Regime zu stürzen.
Während seine Anhänger das Land mit Terror überziehen, zielt Hitler auf die Achillesferse des ohnehin von der Weltwirtschaftskrise gebeutelten Österreich: Am 1. Juni 1933, noch rechtzeitig vor den Pfingstferien, tritt eine 1000-Mark-Gebühr für alle Deutschen, die nach Österreich wollen, in Kraft, eine Summe, die heute wohl rund 4000 Euro entsprechen würde.
Der Strom deutscher Urlaubsgäste versiegt danach zwar nie vollends, wie er das im Frühsommer 2020 tun wird, er verkommt aber eher zum Bächlein. Das autoritäre Österreich – das Parlament ist ausgeschaltet, der Weg zum Ständestaat nur noch kurz – wehrt sich nach Kräften. Der Inlandstourismus wird angekurbelt, Bahnreisen verbilligt, Beamte zum Urlaub in Österreich gedrängt. Eilig wird auch das Zielgruppen-Marketing überholt, wie wir das heute nennen würden. Auf Weltausstellungen wird der Urlaub in „Autriche“und „Austria“beworben, und es gelingt, Franzosen, Briten und Amerikanern die hiesigen Naturjuwele schmackhaft zu machen. Die NS-Propaganda fällt in jenen Tagen aber teils auf fruchtbaren Boden, da und dort wird nicht Berlin, sondern Wien zum Sündenbock für die touristischen Verwerfungen erklärt. Die „Innsbrucker Nachrichten“, ein deutsch-nationales Blatt, schüren 1933 diese Stimmung: „Es wird der Mehrzahl der österreichischen Wirte nie einleuchten, warum sie ihre deutschen Stammesbrüder als Feinde betrachten und darüber zugrunde gehen sollen.“Drei Jahre quält die Tausend-Mark-Sperre. Dann hebt sie das Juliabkommen 1936 auf. Der Preis ist bekannt. Österreich wird von den Achsenmächten „braun gebraten“.
Neuanfang. Mit dem Ende der düstersten Epoche kehrte auch der „Piefke“nach und nach zurück. Also im Wortsinn. Im Nationalsozialismus war die abschätzige Bezeichnung verboten (Bußgeld: 70 Reichsmark) gewesen. Von 1950 bis 1980 schwoll die Zahl der Nächtigungen ausländischer Gäste von 4,3 auf 90,2 Millionen an. Als die „Wochenpresse“1983 vor dem Hintergrund des „Ausverkaufs“Österreichs fragte: „Wer braucht die Piefkes?“, zeigte die Tourismusindustrie entsetzt auf. In den Achtzigern hängen laut Studie 62.000 Arbeitsplätze direkt am Deutschen.
Deshalb ist es ein Glück, dass zu den Werbebotschaftern nicht nur FußballKaiser Franz zählte, sondern auch ein 1,93 großer Rheinländer, der im Wolfgangsee plantschte. Wobei Kanzler Helmut Kohl im Salzkammergut nicht nur urlaubte, sondern gewissermaßen residierte, wie der Empfang von Margaret Thatcher in St. Gilgen 1984 bezeugt. Und manch einer fragt sich, ob es in der heutigen Debatte um die Öffnung der Grenzen nicht helfen würde, wenn Angela Merkel eine ähnliche Zuneigung hegen würde. Aber die Kanzlerin zieht Südimmer Nordtirol vor, anders als viele ostdeutsche Landsleute, die es nicht nur zum Urlauben, sondern auch zur Saisonarbeit nach Österreich verschlägt.
Die Kontroverse um die 100-MarkGebühr 1931 endete übrigens rasch und versöhnlich. Zuerst wurden Ausnahmen für Alpenverein-Mitglieder erwirkt. Und dann gab Berlin auch dem Druck urlaubswilliger Deutscher gänzlich nach. Die kurze Episode dauerte von 21. Juli bis zum 26. August. Am Ballhausplatz liest man das sicher gern.
»Die deutschen Urlauber in Österreich mögen mir verzeihen.«