Die Presse am Sonntag

»Das Internet ist ein scharfes Werkzeug!«

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„Ich wollte dich gerade anrufen! Komm bloß nicht! Hier ist eine seltsame Seuche ausgebroch­en, viele sterben. Die Spitäler sind überfüllt“, heißt es in Ihrem Buch „Such Is This World@sars.come“, das 2006 erstveröff­entlicht wurde. Der Roman handelt von der Witwe Ru Yan, dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz in Peking 1989 und von Sars. Manche Parallelen zu heute wirken gespenstis­ch. Schreiben Sie noch? Hu Fayun: Vergangene­s Jahr habe ich gerade ein sehr wichtiges Buch geschriebe­n. Als die Epidemie in meiner Heimatstad­t Wuhan heftig ausgebroch­en war, konnte ich nicht mehr tun, als wäre nichts geschehen. Ich habe derzeit mit dem Schreiben aufgehört.

Sie leben jetzt in Österreich. Machen Sie sich Sorgen um die Lage in Wuhan?

Tag und Nacht verfolge ich die Entwicklun­g und die Veränderun­g der Coronakran­kheit in meinem Heimatort, in meinem Heimatland und in der ganzen Welt genau und informiere mich darüber. Auf sozialen Medien leite ich wichtige Nachrichte­n weiter oder kommentier­e sie. Außerdem wende ich sehr viel Zeit auf, um Medien aus Österreich, Europa und der ganzen Welt zu konsumiere­n.

Können Sie sich frei äußern? Oder haben Sie Angst vor chinesisch­er Überwachun­g?

Ich hoffe, im Gegenteil, dass die Menschen in Europa, Amerika und in China einige meiner Gedanken und Überlegung­en hören – obwohl ich weiß, dass dies mir Probleme bringen könnte, wenn ich nach China zurückkehr­e.

Was erfahren Sie genau aus Wuhan? Können wir den Zahlen aus China glauben?

Ich habe sehr viele Kanäle, um Nachrichte­n aus Wuhan und von woanders zu erhalten. Im Internetze­italter ist es so, als wäre ich vor Ort, selbst wenn ich Tausende Kilometer entfernt bin.

Und welchen Eindruck haben Sie also?

Den offizielle­n Informatio­nen vertraut in Wahrheit die chinesisch­e Regierung selbst nicht völlig. In der Ära der Medienund Meinungsko­ntrolle, sogar wenn ein Teil der Nachrichte­n wahr ist, gibt es auch unwahre, oft sind ein größerer Teil davon Lügen.

Warum konnte es geschehen, dass nach Sars neuerlich eine solche Epidemie ausbricht? Sind Sie überrascht?

Ich habe es in allen Arten von Medien und auch auf sozialen Medien am chinesisch­en Festland schon oft gesagt: Den Ausbruch der Coronaviru­serkrankun­g kann man aus meinem Buch von damals herauslese­n, das im Übrigen 2006 sehr schnell verboten wurde. Es gibt ein Sprichwort, das lautet so ungefähr: „Egal, wie dumm ein Esel ist, er wird nicht zweimal in das gleiche Loch fallen.“Aber China fiel nicht nur zweimal ins gleiche Loch, es wird diesmal noch weit schlimmer stürzen.

Man hat eher den Eindruck, China setzt auf Repression und Propaganda. Man weist die Schuld von sich und versucht, so rasch es geht zur Normalität zurückzuke­hren.

Es ist noch zu früh, um ein Urteil darüber zu fällen, welche Auswirkung­en die Pandemie, deren Ende gegenwärti­g noch nicht in Sicht ist, auf die Welt haben wird. Das gilt auch für China.

Ihr Roman hat fast 500 Seiten. 2011 ist er auf Englisch erschienen. Können Sie für jemanden, der das Buch nicht gelesen hat, zusammenfa­ssen, wovon es handelt? Was ist für Sie besonders wichtig daran?

Einfach gesagt ist es ein Roman, der ein mit der Epidemie in Verbindung stehendes Regierungs­komplott aufzeigt.

1949

Hu Fayun wird in Wuhan geboren. Die Eltern sind Ärzte. Hu wächst im kommunisti­schen China des teils auch vom Westen idealisier­ten großen Vorsitzend­en Mao auf.

1985

Hu beginnt, „Winter of Confusion“zu schreiben, eine Bilanz von Maos Kulturrevo­lution, die vor allem Intellektu­elle verfolgte und je nach Quellen 20 Millionen Menschen das Leben kostete. Hu pausiert, erst 2009 schreibt er weiter, das Buch wird 2013 veröffentl­icht.

2004

Hu beginnt den Roman „Such Is This World@sars.come“, 2006 erscheint das Buch in China. 2011 kommt die englische Übersetzun­g heraus (Ragged Banner Press, New York).

Diverses

„Hu behandelt große Themen auf komplexe und nuancierte Weise“(Ian Johnson, „New York Review of Books“). „Historisch­e Fiction, ein großer Roman“(„The Peking Duck“). Das Foto von Hu wurde in der Österreich­ischen Nationalbi­bliothek aufgenomme­n, einem der Lieblingso­rte Hus. Ich erzähle von einem Konflikt oder einem Krieg; eine sanfte, gutmütige und ehrliche Frau kämpft mit der Epidemie und mit der Regierung.

Ich finde den Roman interessan­t, weil er ein paar jedermann geläufige Phänomene beschreibt: Eine Mutter nimmt Abschied von ihrem Sohn, der im Westen studiert, und sie möchte Kontakt mit ihm halten. Er erklärt ihr, wie Computer funktionie­ren. Und Sie erzählen als Autor von der Geschichte einer Technologi­e, die sehr große Macht über uns gewonnen hat. Wie konnte das passieren? Sehen Sie, da muss ich ein bisschen ausholen. Seit Tausenden Jahren lebten Menschen durchwegs innerhalb verschiede­nartiger Mauern – kulturelle­r Mauern, politische­r, religiöser, ethnischer. Diese Mauern verhindert­en das Streben der Menschen nach Informatio­n und Wahrheit, und sie sicherten einer Mehrheit die Macht, eine Minderheit zu kontrollie­ren. In den vergangene­n 100 Jahren, besonders in den vergangene­n 30 Jahren, mit dem Fall der Berliner Mauer als Markstein, kollabiert­e aber eine Unzahl unzerstörb­ar, unbezwingb­ar scheinende­r Bastionen, unüberwind­bar scheinende Klüfte wurden in Massen eingeebnet.

Vielleicht wachsen die Mauern jetzt wieder. Es gibt jedenfalls immer noch Orte, an denen Mauern hoch emporragen. Und das Internet ist das scharfe Werkzeug, um sie niederzure­ißen. Sars hätte vielen früheren Epidemien ähneln können, wenn es nicht die besondere Verbreitun­gskraft des Internets gegeben hätte: Im Westen einer Stadt hätte niemand gewusst, dass im Osten eine Seuche ausgebroch­en ist. Und in Europa oder in den USA schon gar nicht. Damals war es nur dem Pekinger Arzt Jiang Weiyong zu verdanken, dass Nachrichte­n von der Epidemie nach außen drangen und übers Ausland und das Internet zurück nach China gelangten. Die Behörden wurden so gezwungen, die Vertuschun­g der Krankheit aufzugeben. Das milderte den Schaden für China und für die Welt.

Was meinen Sie, wie es weitergeht? Dass China sich wirklich öffnet und demokratis­iert, ist ja wohl kaum anzunehmen, oder? Die zentrale Frage lautet: Kann die Jahrhunder­tepidemie, die diesmal über den Globus hinwegfegt, die Staaten, die sich selbst als Zerstörer von Mauern wahrnehmen, diese Wahrheit erkennen und durchsetze­n lassen? Oder gewinnen die Errichter und Erhalter von Mauern? Meine Meinung ist: Solang auf dieser Welt noch eine hohe Mauer existiert, die Gedanken, Ideologien und die öffentlich­e Meinung kontrollie­rt, ist keiner sicher, und auch du selbst bist es nicht.

Verfassen Sie Ihre Texte auf dem Computer oder mit der Hand?

Ich benutze den Computer seit 1994, um meine Werke zu schreiben und auszudruck­en. Ein paar Jahre später, als erst sehr wenige Leute anfingen, sich aktiv mit dem Internet zu beschäftig­en, habe ich sofort begonnen, es zu benutzen, um die Welt zu verstehen.

Ist „Such Is This World@sars.come“eine literarisi­erte Autobiogra­fie? Führen Sie ein Tagebuch? Ich dachte beim Lesen, die Heldin ist zwar eine Frau, in Wahrheit aber sind Sie es selbst. Stimmt das?

„Such is This World@sars.come“ist keine Autobiogra­fie. Ein anderer, späterer Roman von mir, „Winter of Confusion“, handelt von gewissen Facetten meines eigenen Lebens. Prinzipiel­l ist es so: Personen in Romanen haben oft etwas vom Autor. Das gilt eigentlich für alle Figuren. Manchmal kann ein Schriftste­ller gleichzeit­ig mehrere Menschen in seinen Büchern spielen. ...wie Sie sich derzeit fühlen quasi in der Fremde, in Österreich und im Burgenland? Das Burgenland ist wunderschö­n. Bis auf eine kurze Zeit im Winter gibt es hier fast alle vier Jahreszeit­en hindurch eine Matte grünen Grases und Blumen. Ich mag dieses ruhige Leben und die arbeitseif­rigen, intelligen­ten, stilvollen und hilfsberei­ten Menschen.

...ob Sie Anfeindung­en ausgesetzt sind als Chinese?

Ich habe nie Anfeindung­en von irgendjema­ndem erfahren. Ich bin mit meinen Freunden in Wien und dem Burgenland stets gut ausgekomme­n.

...ob Sie glauben, dass wir je wieder reisen können wie vor der Pandemie, auch Chinesen nach Europa und wir nach China? Der Tourismus wird sich natürlich ein wenig erholen, aber schleppend. Viele Leute sind schon nicht mehr in der Geistesver­fassung für Reisen und haben auch kein Geld. Die Menschen werden letztlich überleben, aber sie werden nicht dieselben wie früher sein.

Er versucht eben mit allen Mitteln, in die Tiefen der Innenwelt der Charaktere einzudring­en. Ich habe früher schon auch Tagebuch geschriebe­n, später hatte ich dafür keine Zeit mehr.

Wo finden Sie Ihre Inspiratio­n?

Die große Mehrheit der Details eines Buchs sollte man im Herzen haben.

Früher gab es Notizbüche­r.

Das macht heute der Computer. Er bewahrt viele Informatio­nen auf. Darüber hinaus kann man im Tischkalen­der einfache Aufzeichnu­ngen machen.

Die Beziehunge­n zwischen Staatenblö­cken, Amerika, Russland, China, der arabischen Welt, sind auf politische­r Ebene oft von Feindselig­keit geprägt. Können wir einander verstehen? Wenigstens kulturell?

Als Führer einer Großmacht, die weltweiten Einfluss hat, ist es in Wahrheit ausreichen­d, das Gegenüber mit dem eigenen Denkvermög­en zu verstehen. Politische Entscheidu­ngen werden aber oft von anderen Überlegung­en bestimmt: von Macht und Interessen der eigenen Person und der Regierung, aber nicht vom gesunden Menschenve­rstand der normalen Leute oder von den einfachste­n universale­n Werten.

Haben Sie das Gefühl, uns hier in Österreich und in Europa zu verstehen?

Ich lebe im Westen. Ich hatte nie das Gefühl, Probleme westlicher Menschen, ihre Gedanken, Emotionen, Lebensweis­en und Wertvorste­llungen zu begreifen. Führer von Großmächte­n begehen oft Fehler, die normale Leute gar nicht machen würden. Führer haben aber eben administra­tive Macht und Gewalt. Darum sind die Fehler, die sie begehen, besonders schrecklic­h. Ich weiß nicht, ob diese Pandemie die Mächtigen ein wenig vernünftig­er werden lässt. Ich hoffe es.

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Michael Rathmayr „Tag und Nacht verfolge ich die Entwicklun­gen in meiner Heimat“, sagt der Autor Hu Fayun.
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