»Es gab völlig absurde Spuckattacken«
Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) über eine mögliche zweite Welle, das für ihn einschneidendste Erlebnis in der Coronakrise, den anfangs »nicht plausiblen« Nichtanstieg der häuslichen Gewalt und die Rolle der Polizei in der NS-Zeit.
Ihr direkter Vorgänger als Innenminister, Wolfgang Peschorn, hat einmal gemeint, ein Innenminister wisse stets mehr als die Öffentlichkeit. Wann wussten Sie darüber Bescheid, was in der Coronakrise auf uns zukommt?
Karl Nehammer: Das ist ein Stück weit ein gemeinsames Lernen in der gesamten Regierung gewesen. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit der italienischen Innenministerin, die mir die Situation drastisch geschildert hat. Das war zu jener Zeit, als die Italiener begonnen haben, ganze Dörfer unter Quarantäne zu stellen. Ich weiß noch genau, wo ich war, als die ersten beiden Fälle in Österreich bestätigt wurden, in dem Hotel in Innsbruck. Da war ich gerade auf einem Besuchstag im Land Salzburg und ich wurde informiert, als ich gerade die Landespolizeidirektion betrat. Von dem Moment ist die Zahl unglaublich rasch gestiegen. Wir waren da genauso überrascht wie die Italiener zuvor. Am 15. März, da haben wir die Ausgangsbeschränkungen beschlossen, hatten wir zirka 800 Infizierte. Und am 22. März waren es schon 3000. So ist das immer weiter gestiegen.
Gab es ein besonders einschneidendes, einprägsames Erlebnis?
Das war die Entscheidungsfindung zum Thema Ausgangsbeschränkungen. Wir haben uns gefragt: Was kann der Staat? Was darf der Staat? Wo müssen wir den Cut machen, damit wir nicht dort landen, wo die Italiener schon waren? Wir waren immer zwei Wochen den Italienern hinterher. Die entscheidende Frage war: Wie weit schränkst du das Leben der Menschen jetzt ein? Der Eingriff in das Eigentum, dass man es Unternehmern nicht mehr möglich macht, ihr Unternehmen zu führen, Menschen in ihrer Bewegungsfreiheit einschränkt – das waren ganz intensive Diskussionsmomente. Gerry Foitik vom Roten Kreuz hat dann später einmal zu mir gesagt: Die Maßnahmen waren dann eigentlich nur mehr der Rahmen für die Menschen. Denn die Menschen waren schon in dem Modus der Vorsicht. Wir haben dann den gesetzlichen Rahmen gesetzt. Der Mitarbeiter hatte nun die Erklärung für den Arbeitgeber, wieso er zu Hause bleibt. Ganz schwer war der Entscheidungsprozess, die Schulen zu schließen – eine Änderung für das gesamte gesellschaftliche Leben. Um mit Foitik zu sprechen: Wir haben letztlich etwas getan, was in den Menschen schon vorhanden war. Ohne diese Eigenverantwortung wären wir jetzt nicht da, wo wir sind.
Rund fünf Prozent würden sich nicht an die Regeln halten, hat es immer geheißen. Lässt sich das eingrenzen auf bestimmte Gruppen?
Das ging quer durch. Es ist aber auch immer kleiner geworden. Da war schon das Einschreiten der Polizei sehr wichtig. Gerade am Anfang gab es da absurde Situationen: Es gab CoronaParties im Park, da war sehr viel Alkohol im Spiel, es gab völlig absurde Spuckattacken.
Man hat den Eindruck, dass die Polizei den Dingen nun wieder mehr ihren Lauf lässt. In Parks wird kaum noch patrouilliert.
Wir bestreifen nach wie vor intensiv. Tag und Nacht sind zehntausend Polizistinnen und Polizisten im Einsatz. Aber sie sagen: Sie haben jetzt viel weniger Grund zum Einschreiten.
Sie haben gemeint, Wien mache Ihnen Sorgen. Wissen Sie da auch mehr als wir oder beziehen Sie sich nur auf die steigenden Zahlen?
Die Infektionszahlen sind zum Glück gering. Aber Wien hatte im Vergleich zu den anderen Bundesländern die höchste Zuwachsrate. Wenn wieder höhere Infektionszahlen auftreten, müssen wir ganz schnell sein beim
Thema Containment und Eingrenzung. Daher das Angebot vom Innenministerium an die Landesgesundheitsbehörden, die Expertise der Polizistinnen und Polizisten zu nützen bei den Befragungen, um rasch herauszufinden, wo es Infektionsketten gibt. Das läuft in den Bundesländern sehr gut. Und ich hoffe auch, dass Wien dieses Angebot bald in Anspruch nimmt.
Wieso hat man die Bundesgärten so lang zu gelassen? Diese unterscheiden sich von anderen Parks ja nur unwesentlich?
Als die Entscheidung getroffen wurde, haben andere Städte wie Rom oder Madrid alle ihre großen Parkanlagen geschlossen. Das war bei uns ja nicht der Fall. Aber wir haben die besondere Form der Zugänge bei den Bundesgärten als gefährlich beurteilt.
Kommt die zweite Welle?
Da sind sich die Experten uneinig. Sollten die Infektionszahlen steigen, muss ganz schnell gehandelt werden. Dann greift das Containment. Es wird sofort isoliert und eingegrenzt. Wo ist der Patient 0? Wie kann die Infektionskette durchbrochen werden?
Was halten Sie von einem Immunitätspass für Menschen, die die Erkrankung hinter sich bzw. genügend Antikörper haben? Auch da ist die Frage, ob das wirklich so ist, dass die Menschen dann immun sind. Da sind Experten auch unterschiedlicher Meinung. Solang all diese Befunde nicht abschließend vorliegen, stellt sich diese Frage nicht.
Diese Woche hat der Direktor für Innere Medizin an der Uni Innsbruck in der „ZiB 2“gemeint, man könnte die Maskenpflicht wieder aufheben.
Es gab während der Coronakrise viele Experten, viele Meinungen. Es ist Sache des Gesundheitsministeriums und seiner Experten, da die Linie vorzugeben. Uns wurde der Mund-Nasen-Schutz von unseren Experten nahegelegt.
Braucht es die Miliz und die Zivildiener derzeit wirklich?
Wir haben eine sehr komplexe Einsatzsituation. Bei der Polizei gibt es ein sehr strenges Urlaubsregime, damit wir alle nötigen Einsatzkräfte zur Verfügung haben. Es wurden Polizeischüler hinzugezogen, die können nun wieder in die Schule zurückkehren. Und gleichzeitig sind weiter alle Grenzen zu kontrollieren. Da leistet das Bundesheer einen wesentlichen Beitrag dazu. Ich bin sehr dankbar, dass die Soldaten Polizisten freigespielt haben.
Bei der häuslichen Gewalt gab es angeblich keinen Anstieg. Wie erklären Sie sich das? Das ist ganz interessant. Wir haben von Beginn der Beschränkungen sehr genau darauf geachtet. Weil uns der Nichtanstieg noch nicht plausibel war, haben wir mit der Frauenministerin dennoch eine Info-Kampagne begonnen. Weil häusliche Gewalt ja auch nur immer dann zum Vorschein kommt, wenn sie angezeigt wird. Eine leichten Anstieg gab es jetzt im April. Entscheidend ist, dass die Frauen, die von Gewalt betroffen sind, wissen, dass ihnen nachhaltig geholfen werden kann. Es gibt ja nicht nur das Betretungsverbot, sondern auch das Annäherungsverbot. Da schreitet die Polizei rasch ein, wenn sie informiert wird. Und Frauen, die nicht mehr in ihre Wohnungen zurück können, sollen auch die Gewissheit haben, dass es eine Unterkunftsmöglichkeit für sie und ihre Kinder in den Frauenhäusern gibt.
Sind Sie froh, nun die Grünen als Koalitionspartner zu haben – oder wäre es mit den Freiheitlichen auch gegangen?
Beides gesehen und erlebt. Beides kein Vergleich. Ganz verschieden. Ich bin froh, dass wir uns in den Koalitionsverhandlungen gefunden haben. Ich habe da schon mit Rudi Anschober ganz intensiv sensible Kapitel verhandelt. Und jetzt plötzlich waren wir in der Krise diejenigen von den Ressortverantwortlichen, die am stärksten unmittelbar gefordert waren, jedenfalls am Anfang. Da haben wir trotz unserer Unterschiedlichkeit sehr rasch als Team funktioniert.
Karl Nehammer über Grün und Blau: „Beides gesehen und erlebt. Beides kein Vergleich.“