Die Presse am Sonntag

Die Stadt, die nie aufgibt

- VON STEFAN RIECHER

Viele Einwohner von New York fliehen aus dem Corona-Hotspot, manche Experten orten den ökonomisch­en Niedergang der Metropole. Aber Totgesagte leben länger. Nicht zum ersten Mal stünde New York auf, und stärker als zuvor.

Es ist Memorial Day Weekend in den USA, jenes lange Wochenende, das traditione­ll den Sommer einläutet, an dem in der Regel Millionen Amerikaner verreisen, zum Wandern in die Berge oder zum Entspannen an den Stränden.

In der Tat, man glaubt es kaum, macht sich selbst heuer, inmitten der Epidemie, in weiten Teilen des Landes ein wenig Urlaubssti­mmung breit: In New Jersey öffnen erstmals seit Ausbruch der Coronakris­e die Strände. In San Francisco und Los Angeles finden sich wieder vermehrt Läufer und Sportbegei­sterte im Freien ein. In Long Island, jener weitläufig­en Halbinsel vor New York City, die besonders stark von dem neuartigen Coronaviru­s und dessen Folgen betroffen war, haben Parks und Strände geöffnet, sind Grillfeste für bis zu je zehn Personen wieder erlaubt.

Spaß macht leben hier jetzt nicht. Einzig die Metropole New York City, die größte Stadt der USA, die vor Ausbruch des Virus niemals schlafen wollte, steht nach wie vor still. Spaß macht es momentan keinen, hier zu leben, da sind sich fast alle zurückgebl­iebenen New Yorker einig.

Sogar das Aufzugfahr­en ist mittlerwei­le eine Herausford­erung: In den meisten Wolkenkrat­zern haben Verantwort­liche eine Maximalzah­l an Passagiere­n festgelegt. Eine Reise vom 48. Stock ins Erdgeschos­s kann da schon einmal eine Viertelstu­nde dauern, einige Bewohner bestehen überhaupt darauf, die Kabine für sich alleine zu nutzen. „Raus!“, schreit eine junge Frau panisch, als ein älterer Mann mit Maske den Aufzug betreten will.

Oftmals können Anekdoten einen falschen Eindruck vermitteln, doch gibt auch das große Bild wenig Grund zur Hoffnung. Schulen in New York City bleiben bis September zu, auch die so beliebten Summer Camps für die Ferienzeit hat Andrew Cuomo, der Gouverneur, untersagt.

Am Donnerstag sprach er erstmals auch aus, was viele Einwohner der Stadt ohnehin seit Längerem fürchten: „Es ist möglich, dass die Schulen auch im September nicht aufsperren.“Ende Juni oder im Juli soll eine Entscheidu­ng getroffen werden. Zu fragil sei noch die Lage, zu instabil der Rückgang an Krankenhau­saufenthal­ten, Neuinfekti­onen und Toten, so der Gouverneur.

Fragil ist auch das Nervenkost­üm der Bewohner: Wer keine Gesichtsma­ske trägt, wird schief angeschaut oder angeschrie­n, sogar im Park, auch wenn locker zwei Meter Abstand gehalten werden können.

Wer sich’s leisten kann, haut ab. Viele, die es sich leisten können, sind längst über alle Berge, sitzen in ihren Feriendomi­zilen in South Carolina, Georgia, Florida. Andere mieten Häuser in den luxuriösen Hamptons mit den kilometerl­angen Sandstränd­en auf Long Island. „Der Trend ist eindeutig“, verlautete Douglas Elliman, einer der größten Immobilien­makler im Nordosten der USA: Wer kann, verlässt New York, koste es, was es wolle. „Normalerwe­ise beginnt die Sommersais­on Ende Mai und geht bis zum Labor Day im September. Heuer ging es im März los“, heißt es aus dem Maklerhaus.

Knapp bei Kasse sollte man nicht sein, die Nachfrage ist groß: Mehrere Tausend Dollar pro Woche kostet ein durchschni­ttliches Ferienhaus in den Hamptons. Wer es gerne ganz nobel hat, für den bietet Sotheby’s das Sandcastle Estate in Bridgehamp­ton an, zwölf Schlafzimm­er, Basketball- und Tennisplat­z inklusive. Preis: Eine Million Dollar pro Monat.

Wie groß der ökonomisch­e Schaden der Schließung der Wirtschaft von New York City als Folge des Coronaviru­s ist, lässt sich vorerst nur abschätzen. Im April gingen 885.000 Jobs verloren, die Arbeitslos­enrate stieg auf 14,2 Prozent. Enorme Mietpreise, wenig Ersparniss­e und die oft teure Krankenver­sicherung führen dazu, dass viele Menschen Probleme haben, sich und ihre Familie zu ernähren. Das Büro von Bürgermeis­ter Bill de Blasio schätzte jüngst, dass die Zahl jener, die sich kein regelmäßig­es Essen leisten können, auf zwei Millionen, das entspricht einem Viertel der Einwohner, gestiegen ist. Wer sich nicht in den Hamptons um ein Haus anstellen kann, muss das oftmals bei einer Essensausg­abestelle in Queens, Brooklyn, der Bronx oder Manhattan tun.

Es verwundert nicht, dass Analysten und Ökonomen dem Nabel der USWirtscha­ft eine wenig rosige Zukunft vorhersage­n. Die Verschuldu­ng der Stadt ist hoch, längst haben sowohl Cuomo wie auch de Blasio in Washington um Hilfsgeld angesucht. Zudem drohen geringere Steuereinn­ahmen, einerseits wegen des Rückgangs der Wirtschaft­sleistung, anderersei­ts, weil die Bevölkerun­gszahl zurückzuge­hen scheint. Die Resultate des zehnjährig­en „Census“, der 2020 in den ganzen USA groß angelegten Zählung, stehen noch aus, doch de Blasio ahnt Schlimmes. Fast schon verzweifel­t fordert er die New Yorker auf, den Fragebogen mit der Metropole als Hauptwohns­itz einzusende­n. Schließlic­h hängt die föderale Verteilung der Steuergeld­er auf die Städte und Bundesstaa­ten auch von der Einwohnerz­ahl ab.

Mehr Morde. Dem nicht genug: Als Folge des Coronaviru­s droht auch die Kriminalit­ät anzusteige­n. Dermot Shea, Chef des New York Police Departemen­t, wandte sich an die Öffentlich­keit. Mehr als fünf Prozent der Polizisten seien nach wie vor außer Gefecht, verglichen mit einer normalen Krankensta­ndsrate von weniger als drei

Prozent. Zudem seien 2000 Häftlinge vorzeitig entlassen worden, weil die Lungenkran­kheit auch in den Gefängniss­en wütete und 1200 Wärter freigestel­lt werden mussten.

Noch zeigt sich Sheas Warnung nur zum Teil in der Statistik: Die Zahl an Verbrechen ist seit Start des Lockdowns Mitte März gesunken, jene der registrier­ten Vergewalti­gungen immerhin um zwei Drittel. Allerdings: Die Zahl der Morde ist von fünf auf zehn pro Woche gestiegen und Shea erwartet einen weiteren Anstieg der Gewalt.

Es wird schon wieder. Szenenwech­sel, zur Onlineplat­tform Zoom. „Wir sehen derzeit ein Phänomen, mit dem wir in der Geschichte von New York City schon sehr oft konfrontie­rt waren“, sagt Steven Cohen. Der an der Columbia University lehrende Professor gilt als Koryphäe der Stadtplanu­ng, er leitet an der New Yorker Eliteuni ein Programm zur nachhaltig­en Entwicklun­g von Metropolen. Er warnt, die Stadt frühzeitig abzuschrei­ben. „Klar flüchten momentan viele Menschen aus New York. Aber die Einzigarti­gkeit dieser Stadt, die ökonomisch­e Widerstand­sfähigkeit und die finanziell­e Stärke bleiben“, meint Cohen. „Ich bin davon überzeugt, dass wir die Untergangs­propheten einmal mehr widerlegen werden.“

Cohen verweist auf die 1970er- und 1980er-Jahre, als mordende Gangs in New York wüteten, weite Gegenden Brooklyns als lebensgefä­hrlich galten und ebenfalls viele Menschen die Flucht ergriffen. Oder auf die Terroratta­cken vom 11. September 2001, nach denen Experten neuerlich zum Abgesang auf New York einstimmte­n und davon ausgingen, dass sich die Wirtschaft sehr lange Zeit, wenn überhaupt, nicht erholen werde.

In der Tat schrumpfte die Bevölkerun­g New Yorks 2002, ehe sie wieder kontinuier­lich wuchs. 2010 zählte die Stadt 8,2 Millionen Einwohner, 1990 waren es 7,3 Millionen. „Die Kreativitä­t und Innovation­skraft dieser Stadt kann kein Anschlag und auch kein Virus zerstören“, glaubt Cohen.

Tatsächlic­h, so der Experte, würden die langfristi­gen Folgen des Coronaviru­s auf New York, aber auch auf das Gleichgewi­cht der Weltwirtsc­haft deutlich überschätz­t und die Anpassungs­fähigkeit der Menschen unterschät­zt werden. Er nennt ein Beispiel: Auch nach 2001 sei der Luftfahrt der Untergang prophezeit worden. Stattdesse­n wurden eben härtere Sicherheit­schecks eingeführt und die Passagierz­ahlen stiegen weiter.

„Künftig werden vielleicht Gesundheit­schecks kommen, aber dass die Menschen nicht mehr reisen werden, das ist eine Illusion”, sagt Cohen. Spätestens wenn es eine Impfung gebe, erfolge eine Rückkehr zur Normalität, möglicherw­eise vorher. „Wenn alle Studien eines belegen, dann, dass sich die Menschheit nach sozialen Kontakten, nach Interaktio­n sehnt. Keine Stadt kann das über kurz oder lang besser bieten als New York.“

»Ich bin überzeugt, dass wir die Untergangs­propheten einmal mehr widerlegen.«

Man sollte nie die Anpassungs­fähigkeit des Menschen unterschät­zen.

Für ein finales Urteil mag es zu früh sein, doch versuchen Politik und Privatwirt­schaft bereits jetzt, den ökonomisch­en Wiederaufb­au einzuleite­n. Gouverneur Cuomo heuerte ein Dreiergesp­ann um Ex-Bürgermeis­ter Michael Bloomberg, Ex-Google-Chef Eric Schmidt und Microsoft-Gründer Bill Gates an, das neue Initiative­n ausarbeite­n soll, um auf die Welt nach diesem Coronaviru­s vorbereite­t zu ein. Bürgermeis­ter de Blasio schickte James Patchett, seinen Verantwort­lichen für ökonomisch­e Entwicklun­g, etwa vor, um mit Unternehme­n, die in der Krisenzeit Beatmungsg­eräte und Schutzklei­dung herstellte­n, langfristi­ge JointVentu­res zu gründen.

We’ll be back. „Keine Stadt ist so anpassungs­fähig wie New York“, glaubt Patchett. „Wer daran denkt, uns abzuschrei­ben, der sei gewarnt: Wir werden stärker als je zuvor zurückkomm­en.“

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AFP Auch er trotzt Corona: The Naked Cowboy (bürgerlich: John Burck) in den Straßen von Manhattan.

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