Die Stadt, die nie aufgibt
Viele Einwohner von New York fliehen aus dem Corona-Hotspot, manche Experten orten den ökonomischen Niedergang der Metropole. Aber Totgesagte leben länger. Nicht zum ersten Mal stünde New York auf, und stärker als zuvor.
Es ist Memorial Day Weekend in den USA, jenes lange Wochenende, das traditionell den Sommer einläutet, an dem in der Regel Millionen Amerikaner verreisen, zum Wandern in die Berge oder zum Entspannen an den Stränden.
In der Tat, man glaubt es kaum, macht sich selbst heuer, inmitten der Epidemie, in weiten Teilen des Landes ein wenig Urlaubsstimmung breit: In New Jersey öffnen erstmals seit Ausbruch der Coronakrise die Strände. In San Francisco und Los Angeles finden sich wieder vermehrt Läufer und Sportbegeisterte im Freien ein. In Long Island, jener weitläufigen Halbinsel vor New York City, die besonders stark von dem neuartigen Coronavirus und dessen Folgen betroffen war, haben Parks und Strände geöffnet, sind Grillfeste für bis zu je zehn Personen wieder erlaubt.
Spaß macht leben hier jetzt nicht. Einzig die Metropole New York City, die größte Stadt der USA, die vor Ausbruch des Virus niemals schlafen wollte, steht nach wie vor still. Spaß macht es momentan keinen, hier zu leben, da sind sich fast alle zurückgebliebenen New Yorker einig.
Sogar das Aufzugfahren ist mittlerweile eine Herausforderung: In den meisten Wolkenkratzern haben Verantwortliche eine Maximalzahl an Passagieren festgelegt. Eine Reise vom 48. Stock ins Erdgeschoss kann da schon einmal eine Viertelstunde dauern, einige Bewohner bestehen überhaupt darauf, die Kabine für sich alleine zu nutzen. „Raus!“, schreit eine junge Frau panisch, als ein älterer Mann mit Maske den Aufzug betreten will.
Oftmals können Anekdoten einen falschen Eindruck vermitteln, doch gibt auch das große Bild wenig Grund zur Hoffnung. Schulen in New York City bleiben bis September zu, auch die so beliebten Summer Camps für die Ferienzeit hat Andrew Cuomo, der Gouverneur, untersagt.
Am Donnerstag sprach er erstmals auch aus, was viele Einwohner der Stadt ohnehin seit Längerem fürchten: „Es ist möglich, dass die Schulen auch im September nicht aufsperren.“Ende Juni oder im Juli soll eine Entscheidung getroffen werden. Zu fragil sei noch die Lage, zu instabil der Rückgang an Krankenhausaufenthalten, Neuinfektionen und Toten, so der Gouverneur.
Fragil ist auch das Nervenkostüm der Bewohner: Wer keine Gesichtsmaske trägt, wird schief angeschaut oder angeschrien, sogar im Park, auch wenn locker zwei Meter Abstand gehalten werden können.
Wer sich’s leisten kann, haut ab. Viele, die es sich leisten können, sind längst über alle Berge, sitzen in ihren Feriendomizilen in South Carolina, Georgia, Florida. Andere mieten Häuser in den luxuriösen Hamptons mit den kilometerlangen Sandstränden auf Long Island. „Der Trend ist eindeutig“, verlautete Douglas Elliman, einer der größten Immobilienmakler im Nordosten der USA: Wer kann, verlässt New York, koste es, was es wolle. „Normalerweise beginnt die Sommersaison Ende Mai und geht bis zum Labor Day im September. Heuer ging es im März los“, heißt es aus dem Maklerhaus.
Knapp bei Kasse sollte man nicht sein, die Nachfrage ist groß: Mehrere Tausend Dollar pro Woche kostet ein durchschnittliches Ferienhaus in den Hamptons. Wer es gerne ganz nobel hat, für den bietet Sotheby’s das Sandcastle Estate in Bridgehampton an, zwölf Schlafzimmer, Basketball- und Tennisplatz inklusive. Preis: Eine Million Dollar pro Monat.
Wie groß der ökonomische Schaden der Schließung der Wirtschaft von New York City als Folge des Coronavirus ist, lässt sich vorerst nur abschätzen. Im April gingen 885.000 Jobs verloren, die Arbeitslosenrate stieg auf 14,2 Prozent. Enorme Mietpreise, wenig Ersparnisse und die oft teure Krankenversicherung führen dazu, dass viele Menschen Probleme haben, sich und ihre Familie zu ernähren. Das Büro von Bürgermeister Bill de Blasio schätzte jüngst, dass die Zahl jener, die sich kein regelmäßiges Essen leisten können, auf zwei Millionen, das entspricht einem Viertel der Einwohner, gestiegen ist. Wer sich nicht in den Hamptons um ein Haus anstellen kann, muss das oftmals bei einer Essensausgabestelle in Queens, Brooklyn, der Bronx oder Manhattan tun.
Es verwundert nicht, dass Analysten und Ökonomen dem Nabel der USWirtschaft eine wenig rosige Zukunft vorhersagen. Die Verschuldung der Stadt ist hoch, längst haben sowohl Cuomo wie auch de Blasio in Washington um Hilfsgeld angesucht. Zudem drohen geringere Steuereinnahmen, einerseits wegen des Rückgangs der Wirtschaftsleistung, andererseits, weil die Bevölkerungszahl zurückzugehen scheint. Die Resultate des zehnjährigen „Census“, der 2020 in den ganzen USA groß angelegten Zählung, stehen noch aus, doch de Blasio ahnt Schlimmes. Fast schon verzweifelt fordert er die New Yorker auf, den Fragebogen mit der Metropole als Hauptwohnsitz einzusenden. Schließlich hängt die föderale Verteilung der Steuergelder auf die Städte und Bundesstaaten auch von der Einwohnerzahl ab.
Mehr Morde. Dem nicht genug: Als Folge des Coronavirus droht auch die Kriminalität anzusteigen. Dermot Shea, Chef des New York Police Departement, wandte sich an die Öffentlichkeit. Mehr als fünf Prozent der Polizisten seien nach wie vor außer Gefecht, verglichen mit einer normalen Krankenstandsrate von weniger als drei
Prozent. Zudem seien 2000 Häftlinge vorzeitig entlassen worden, weil die Lungenkrankheit auch in den Gefängnissen wütete und 1200 Wärter freigestellt werden mussten.
Noch zeigt sich Sheas Warnung nur zum Teil in der Statistik: Die Zahl an Verbrechen ist seit Start des Lockdowns Mitte März gesunken, jene der registrierten Vergewaltigungen immerhin um zwei Drittel. Allerdings: Die Zahl der Morde ist von fünf auf zehn pro Woche gestiegen und Shea erwartet einen weiteren Anstieg der Gewalt.
Es wird schon wieder. Szenenwechsel, zur Onlineplattform Zoom. „Wir sehen derzeit ein Phänomen, mit dem wir in der Geschichte von New York City schon sehr oft konfrontiert waren“, sagt Steven Cohen. Der an der Columbia University lehrende Professor gilt als Koryphäe der Stadtplanung, er leitet an der New Yorker Eliteuni ein Programm zur nachhaltigen Entwicklung von Metropolen. Er warnt, die Stadt frühzeitig abzuschreiben. „Klar flüchten momentan viele Menschen aus New York. Aber die Einzigartigkeit dieser Stadt, die ökonomische Widerstandsfähigkeit und die finanzielle Stärke bleiben“, meint Cohen. „Ich bin davon überzeugt, dass wir die Untergangspropheten einmal mehr widerlegen werden.“
Cohen verweist auf die 1970er- und 1980er-Jahre, als mordende Gangs in New York wüteten, weite Gegenden Brooklyns als lebensgefährlich galten und ebenfalls viele Menschen die Flucht ergriffen. Oder auf die Terrorattacken vom 11. September 2001, nach denen Experten neuerlich zum Abgesang auf New York einstimmten und davon ausgingen, dass sich die Wirtschaft sehr lange Zeit, wenn überhaupt, nicht erholen werde.
In der Tat schrumpfte die Bevölkerung New Yorks 2002, ehe sie wieder kontinuierlich wuchs. 2010 zählte die Stadt 8,2 Millionen Einwohner, 1990 waren es 7,3 Millionen. „Die Kreativität und Innovationskraft dieser Stadt kann kein Anschlag und auch kein Virus zerstören“, glaubt Cohen.
Tatsächlich, so der Experte, würden die langfristigen Folgen des Coronavirus auf New York, aber auch auf das Gleichgewicht der Weltwirtschaft deutlich überschätzt und die Anpassungsfähigkeit der Menschen unterschätzt werden. Er nennt ein Beispiel: Auch nach 2001 sei der Luftfahrt der Untergang prophezeit worden. Stattdessen wurden eben härtere Sicherheitschecks eingeführt und die Passagierzahlen stiegen weiter.
„Künftig werden vielleicht Gesundheitschecks kommen, aber dass die Menschen nicht mehr reisen werden, das ist eine Illusion”, sagt Cohen. Spätestens wenn es eine Impfung gebe, erfolge eine Rückkehr zur Normalität, möglicherweise vorher. „Wenn alle Studien eines belegen, dann, dass sich die Menschheit nach sozialen Kontakten, nach Interaktion sehnt. Keine Stadt kann das über kurz oder lang besser bieten als New York.“
»Ich bin überzeugt, dass wir die Untergangspropheten einmal mehr widerlegen.«
Man sollte nie die Anpassungsfähigkeit des Menschen unterschätzen.
Für ein finales Urteil mag es zu früh sein, doch versuchen Politik und Privatwirtschaft bereits jetzt, den ökonomischen Wiederaufbau einzuleiten. Gouverneur Cuomo heuerte ein Dreiergespann um Ex-Bürgermeister Michael Bloomberg, Ex-Google-Chef Eric Schmidt und Microsoft-Gründer Bill Gates an, das neue Initiativen ausarbeiten soll, um auf die Welt nach diesem Coronavirus vorbereitet zu ein. Bürgermeister de Blasio schickte James Patchett, seinen Verantwortlichen für ökonomische Entwicklung, etwa vor, um mit Unternehmen, die in der Krisenzeit Beatmungsgeräte und Schutzkleidung herstellten, langfristige JointVentures zu gründen.
We’ll be back. „Keine Stadt ist so anpassungsfähig wie New York“, glaubt Patchett. „Wer daran denkt, uns abzuschreiben, der sei gewarnt: Wir werden stärker als je zuvor zurückkommen.“