»Drive to Survive« – großes Drama im Kreisverkehr
Rivalen in Rot, das Debakel der Silberpfeile und ein heimlicher Star: Netflix liefert den Vorgeschmack auf die Formel-1-Saison.
Anfangs hat Toto Wolff der NetflixCrew noch einen Korb verpasst. Dann hat sich der Mercedes-Teamchef die erste Staffel auf einem Langstreckenflug nach Australien angesehen, und in der zweiten Staffel ist er nun selbst einer der Hauptdarsteller. Die DokuSerie „Formula 1: Drive to Survive“ist die Speerspitze in der Strategie des neuen Formel-1-Besitzers Liberty Media. Das Ziel: Die altbackene Königsklasse des Motorsports soll eine globale Unterhaltungsmarke werden.
Auch wenn Formel-1-Rennen zuletzt längst nicht so langweilig waren wie ihr Ruf – im Machwerk des britischen Produzenten James Gay-Rees („Senna“, „Ronaldo“, „Diego Maradona“) gibt das Im-Kreis-Fahren ohnehin nur den Rahmen vor. Die Geschichten dieses Sports werden davor, danach und dazwischen geschrieben, und genau dann weiß Gay-Rees seinen exklusiven Zugang zu den Boxen, den
Besprechungsräumen und den Familientischen der Fahrer und Teamchefs auszuspielen.
Nach dem Erfolg von Staffel eins sträubten sich auch die Topteams Mercedes und Ferrari nicht mehr gegen die Kameras. Und so erklärt in Staffel zwei, die die Saison 2019 abbildet, ein durchaus humorvoller, teilweise martialischer Toto Wolff seine Teamphilosophie. „Ich kann das Auto nicht fahren, ich kann keine Aerodynamik konstruieren. Aber ich versuche alles über denjenigen zu verstehen, der das kann“, sagt der Serien-Weltmeister.
Kritik am Erzählstil. Vor allem aber haben die Kamerateams scheinbar unfassbares Glück gehabt und waren stets zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Die Mercedes-Episode etwa dreht sich um den Heim-Grand-Prix der Silberpfeile in Hockenheim, bei dem auch noch 125 Jahre Mercedes-Motorsport gefeiert wird und das Team in historischer Verkleidung ans Werk geht. Doch just dieses Rennen gerät zum totalen Fiasko für die erfolgsverwöhnte Truppe von Toto Wolff – zwei Monate, nachdem der Wiener seinen Freund und Vertrauten Niki Lauda verloren hat. Es sind seltene Bilder, wenn ein gezeichneter Lewis Hamilton seinen Chef um Verzeihung bittet und das Gewinnerteam plötzlich wie ein geschlagener Boxer in den Seilen hängt.
Eines müssen sich die Macher aber vorwerfen lassen: Um die Geschichten packend zu erzählen, wird das Geschehen das ein oder andere Mal zugespitzt. Tatsächlich können sich Kevin Magnussen und Romain Grosjean, die beiden Haas-Piloten, anders als dargestellt durchaus leiden. Auch der in der Serie rücksichtslos wirkende Red-BullStar Max Verstappen erklärte: „Ich denke nicht, dass man mein wahres Ich gesehen hat.“
Formula 1:
Drive to Survive
Netflix, 2019.
Staffel 1 (10 Folgen) verfolgt die Saison 2018.
Staffel 2 (10 Folgen) beinhaltet die Saison 2019.
Produzent ist der Brite James Gay-Rees (u. a. „Senna“, „Ronaldo“, „Diego Maradona“).
Apropos Red Bull: Wie sich Motorsportberater Helmut Marko und Teamchef Christian Horner über ihren viel zu langsamen Fahrer Pierre Gasly lustig machen, ist schon sehenswert. Gaslys Unsicherheit im Cockpit ist spürbar und schmerzhaft mitanzusehen. Wie sich der junge Franzose, nachdem er gefeuert wurde, bei Marko und Co. revanchiert, ist einer der großen Handlungsbögen der zweiten Staffel.
Weitere Highlights: Der fluchende Südtiroler Haas-Teamchef Günther Steiner, der heimliche Star der Serie; die bedauernswerte Claire Williams, die versucht, die Rote Laterne abzuschütteln; die Ferrari-Rivalen Charles Leclerc und Sebastian Vettel, die beim Autofahren ihren Musikgeschmack erläutern. Oder eben Toto Wolff, der am Handy Fahrerkarrieren arrangiert und damit andere beendet. PS, Motorenlärm und Überholmanöver sind dann nur noch die Nebendarsteller.