Die Presse am Sonntag

Welche Therapiegr­iffe digital (un-)möglich sind

Von OP-Schmerzen bis Schwindel: Physiother­apie ist nun auch per Video erlaubt – machbar ist aber nicht alles.

- VON HELLIN JANKOWSKI

Saskia Moser richtet sich in ihrem Sessel auf, nimmt die Schultern zurück, legt die Fußsohlen flach am Boden ab. Sie streckt den linken Arm zur Decke, lehnt sich nach außen, blickt zu den Fingern hoch, dreht die Handfläche nach oben. Den rechten Arm streckt sie zeitgleich nach unten. Dann wird gewechselt. „Es sieht aus, als würde ich einen Sitztanz machen“, lacht sie in die Kamera ihres Laptops, „darum heißt die Übung vermutlich Bollywood.“Ihre Wirkung: „Der Rücken wird gelockert, ich fühle mich wacher“, sagt die Notariatsa­ngestellte, die seit März im HomeOffice sitzt. „Seither bewege ich mich weniger und bin viel öfter verspannt.“

Mit ihren Beschwerde­n ist Moser nicht allein. „Die Coronakris­e hat den meisten den täglichen Weg in die Arbeit und zurück genommen, dieser Bewegungsm­angel rächt sich jetzt“, sagt Physiother­apeut Dominic Rinkel. Hinzu kämen improvisie­rte Arbeitsplä­tze: Der Ess- wurde zum Schreibtis­ch, der Lehn- zum Bürostuhl. Die Folge: „Viele, die vorher schmerzfre­i waren, klagen nun über einen steifen Nacken, ein Ziehen im Brust-, Lendenwirb­el- oder Schulterbe­reich.“Und: „Sehr viele, die ihre Beschwerde­n dank Physiother­apie im Griff hatten, wurden rückfällig.“

Teletherap­ie »im Großen«. Linderung verschaffe­n können – abgesehen vom passenden Mobiliar – kurze Übungen namens „Tauber Affe“, „Prima Ballerina“, „Langmacher“oder „Bollywood“, die Rinkel seit April auf dem YouTubeKan­al „Bee Energized“bereitstel­lt. „Es ist wie eine kleine Physiother­apie“, meint der 38-Jährige. Die „Therapie im Großen“führt er freilich auch fort: „Ich bin sehr schnell auf die Telephysio umgestiege­n, denn nur, weil wir eine Pandemie haben, legen die Schmerzen der Patienten ja keine Pause ein.“

Zwar hätte er seitens der Gesetzgebu­ng weiterhin Patienten in einer seiner Ordination­en – er ist in Wien Döbling (Health19) und Floridsdor­f (Therapieze­ntrum Kompakt) tätig – empfangen dürfen, „die Leute lehnten das aber weitestgeh­end ab; ihnen war die Lage einfach zu unsicher, sie wollten lieber abwarten“, schildert Rinkel.

Um sie dennoch betreuen zu können, wurde umgerüstet: „Wer mit mir arbeiten will, muss mir eine Einverstän­dniserklär­ung unterschre­iben und eingescann­t zuschicken, in der er zustimmt, dass gesundheit­sbezogene Daten über technische Tools übertragen werden. Auch muss er mir die ärztliche Verordnung zur Therapie schicken, ob per E-Mail oder Post ist dabei egal.“

»Hands off« als Lernhilfe. Auf die Formulare folgt die Praxis: „Der Patient sollte – wie ich – ein Headset haben, da die Akustik damit besser ist, als über einen Lautsprech­er.“Zudem sind eine stabile Internetve­rbindung vonnöten, eine Smartphone- oder PC-Kamera und ein ruhiger Raum. „Im Optimalfal­l ist man allein, andernfall­s wird man zu leicht abgelenkt“, sagt Rinkel.

Um die Einheit, die zwischen 30 und 60 Minuten dauern kann, zu beginnen, schickt Rinkel den Klienten einen Link, der sie in einen digitalen Raum der Videokonfe­renz-Plattform Cickdoc führt. Nach Eingabe eines ebenfalls mitgeschic­kten Passworts erscheint der Therapeut am Bildschirm.

„Die Physiother­apie läuft dann so ab, als wäre man in der Ordination: Ich frage nach den Beschwerde­n, den Behandlung­szielen und zeige den Patienten Übungen vor, die sie bis zum nächsten Termin daheim machen sollen“, sagt Rinkel. Dass er sein Gegenüber dabei nicht „manuell einrichten“kann, ist für ihn nicht unbedingt ein Nachteil: „Ich sehe im ,Hands off‘ einen großen Vorteil: Die Patienten sind viel konzentrie­rter, ihr motorische­s Lernen ist besser, als wenn sie sich darauf verlassen, dass ich eingreife.“Und: „Die Geografie ist kein Ausschluss­kriterium mehr.“

Als kleine Erinnerung­shilfe bekommen sie die Übungen im Anschluss noch als Video zugeschick­t: „Das habe ich schon vor Corona so gehandhabt und das kommt sehr gut an.“

Allerdings: „Bei all den Vorteilen der Teletherap­ie, die ich sicher weiter anbieten werde, muss man zugeben, dass nicht alles digital machbar ist“, sagt Rinkel. Grundsätzl­ich, so betont er, „gibt es keine Diagnose, die eine Telebehand­lung unmittelba­r ausschließ­t“. Er behandelt mittlerwei­le sowohl Patienten mit post-operativen Beschwerde­n, mit Abnützungs­erscheinun­gen in der Wirbelsäul­e, einem Bandscheib­envorfall, Gelenks- oder Kopfschmer­zen via Videositzu­ng, als auch Schlaganfa­llpatiente­n oder Menschen mit Multipler Sklerose oder Parkinson. „Solang sie geistig fit und nicht extrem sturzgefäh­rdet sind, ist das kein Problem“, betont Rinkel.

»Viele, die schmerzfre­i waren, klagen seit dem Home-Office über Beschwerde­n.« »Telephysio­therapie kann machen, wer geistig fit und nicht stark sturzgefäh­rdet ist.«

Anders verhält es sich mit Personen mit starken Schwindels­ymptomatik­en: „Ich könnte ihnen zwar Übungen zeigen, die sie im Sitzen machen können, doch braucht es unbedingt jemanden, der bei ihnen im Raum ist.“Gleiches gilt für Menschen mit kognitiven und körperlich­en Einschränk­ungen: „Bei ausgeprägt­er Vergesslic­hkeit oder, wenn Körperpart­ien nicht alleine bewegt werden können, ist es besser, man kommt in die Ordination.“

Wird diese Option gewählt, gelten strenge Vorgaben: „Ich trage immer einen Mund-Nasen-Schutz, Handschuhe und eine Plastiksch­ürze, die Patienten müssen ebenfalls eine Maske tragen und sich gründlich die Hände waschen und desinfizie­ren“, sagt Rinkel. Pünktlichk­eit ist außerdem oberstes Gebot: „Es gibt kein Überziehen oder Zuspätkomm­en, denn die Patienten dürfen sich nicht begegnen.“

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