»Wir realisieren nicht, was das für unsere Freiheit bedeutet«
Der Journalist und Buchautor Huib Modderkolk über das digitale Wettrüsten, die Coronakrise und die neue Rolle der Geheimdienste.
Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie verwundbar unsere Gesellschaften angesichts der digitalen Vernetzung sind. Unterschätzen wir dieses Risiko noch viel zu sehr?
Huib Modderkolk: Absolut. Die Vorteile der modernen Technologien sind schnell zu erkennen, aber es ist schwer, die Risken zu sehen. Wir realisieren nicht, was das für unsere Freiheiten oder unsere eigene Sicherheit bedeutet. Die Folge ist: Wir geben nicht nur persönliche Daten bereitwillig her, sondern auch Teile unserer Autonomie. Wenn man über WhatsApp telefoniert, muss man wissen, wo die Daten hingehen. Gehen sie in die USA? Oder direkt nach Deutschland? Was für ein Internet-Knotenpunkt? Was für Gebäude? Welche Kabel? Diese Infrastruktur ist ja nicht neutral. Sie gehört jemandem. Und es ist möglich, diese Daten abzufangen.
Sie sprechen von einem „Krieg“. . .
Das Wort Krieg ist kontrovers, es suggeriert einen normalen Krieg zwischen Staaten, die Wirklichkeit ist aber nuancierter. Zum Beispiel heiß es im Jahresbericht des holländischen (Geheimdienstes, Anm.) AIVD: „Ausländische
Staaten verschaffen sich Zugang zu kritischer Infrastruktur und nutzen diese Position, um später angreifen zu können.“Es geht also auch um strategische Positionen. Würden sich russische Soldaten an der Grenze in Stellung bringen, wären wir alarmiert. Jetzt ist es komplizierter. Sie sind da – aber wie ordnet man das ein?
Und Hauptakteure sind die Geheimdienste? Die Stellung der Geheimdienste hat sich in den vergangenen zehn Jahren dramatisch verändert. Sie sind an der Frontlinie der neuen digitalen Konflikte – anstatt, wie früher, Informationen zu sammeln und diese den politischen Institutionen zu übergeben. Das hat Konsequenzen, etwa was Kontrolle oder Rechenschaftspflicht betrifft. Wir sehen nicht, was sie tun.
Russland und China sind in diesem Spiel ganz vorne mit dabei. Sind autokratische Staaten im Vorteil?
Ja. In den westlichen Ländern gibt es demokratische Regeln und eine offenere Debatte über die Macht der Geheimdienste. Das gibt es in China, Russland oder im Iran in der Form
Huib Modderkolk,
Jahrgang 1982, ist investigativer Journalist bei der niederländischen Tageszeitung »de Volkskrant« in Amsterdam.
Zu seinen Spezialthemen
zählen vor allem die Schattenseiten der Digitalisierung, die Arbeit der Geheimdienste und die Bedrohung durch digitale Netzwerke. nicht. Sie können schonungslos angreifen. Und sie haben eine ziemlich strikte Kontrolle über ihr Internet. Offene Gesellschaften haben es deshalb schwerer, sich gegen ausländische Bedrohungen zu schützen. Außerdem gibt es mit Blick auf die Zahlen einen großen Unterschied: In China gibt es nach niederländischen Schätzungen etwa 150.000 Hacker, die jeden Tag Angriffe in anderen Ländern durchführen. Allerdings sind es ja nicht nur die Russen und die Chinesen, sondern auch wir. Es ist unglaublich, wie viele Daten die US-amerikanischen und britischen Geheimdienste sammeln.
Können kleine oder mittelgroße Länder wie Österreich oder die Niederlande dem überhaupt etwas entgegensetzen?
Das ist schwierig. Es gab ja auch in Österreich schwerwiegende Fälle wie zum Beispiel die Attacken auf das Außenministerium. Die Chinesen sind da ziemlich unverblümt, machen viel Lärm und versuchen es immer wieder. Die Russen sind technisch kompetenter, aber auch sie können schonungslos angreifen, wenn sie wollen. Wenn man das als Mittel benutzt, um demokratische Prozesse oder auch Informationen zu beeinflussen, dann haben wir selbst nicht mehr wirklich die Kontrolle darüber. Das ist der Fall in Österreich, aber auch in den Niederlanden.
Die Coronakrise hat unsere Abhängigkeit von den digitalen Technologien potenziert. Wie wird sich das auswirken?
Die letzte große westliche Krise war 9/11 – und es hat zwölf Jahre, bis zu den Enthüllungen von Edward Snowden gedauert, um das Ausmaß der Überwachungsfähigkeiten zu realisieren, die nach 9/11 geschaffen wurden. Dies ist eine neue Krise, und wir waren gerade dabei, einen anderen Blick auf die großen Tech-Konzerne zu werfen: Apple, Google, Amazon, Facebook und Microsoft. Die EU hatte beispielsweise damit begonnen zu untersuchen, wie Google und Facebook ihre Daten sammeln. Jetzt stehen die Konzerne als Retter da und profitieren von der Krise. Sogar europäische Regierungen wenden sich der Technologie zu, um das Virus in den Griff zu bekommen. Das war vor einem halben Jahr undenkbar. Wenn man persönliche Daten sammelt – wie wird man diese Daten schützen?