Kann Trump trotzdem gewinnen?
Zum Memorial Day am Montag haben Joe und Jill Biden erstmals seit zehn Wochen ihr Haus in Wilmington (Delaware) verlassen. Passend zum Gedenktag für die gefallenen US-Soldaten trugen sie bei der Kranzniederlegung am Soldatendenkmal im nahen Castle Rock schwarze Schutzmasken. „Fühlt sich gut an“, kommentierte Biden den Ausflug, seinen ersten Auftritt in der Öffentlichkeit. Und empfahl dem Präsidenten, als Vorbildwirkung in der Öffentlichkeit endlich eine Maske aufzusetzen. Im CNN-Interview im Garten seines Hauses kritisierte er dessen „Macho-Gehabe“und beschimpfte ihn wegen dessen Häme über seinen Bankräuber-Look als „absoluten Idioten“.
Das ist die Diktion, die in Washington den Ton angibt, und es liefert einen Vorgeschmack auf einen inferioren Wahlkampf, bei dem alle Schranken fallen. Ein Präsident, der um sich schlägt, Aufruhr im Tagesrhythmus – sei es in Minneapolis („Looting and Shooting“), im Kleinkrieg mit China, der WHO und Twitter. Und ein Kandidat, zu Hause „eingebunkert“, den die Ereignisse jetzt aus der Reserve locken.
„Joes Keller“. Wegen strikter Quarantänebestimmungen war der 77-jährige Präsidentschaftskandidat der Demokraten seit Mitte März in seinem Haus quasi eingesperrt. Eine Triumph-Tour nach seiner Siegesserie bei den Vorwahlen blieb ihm verwehrt. Während der bald 74-jährige Donald Trump im Weißen Haus die Schlagzeilen beherrschte, Kontroversen auslöste und Stippvisiten in Fabriken in wahlentscheidenden Swing States wie Michigan oder Pennsylvania absolvierte, machte sich Biden mit ungelenken Auftritten in sozialen Netzwerken, Interviews und Videokonferenzen aus seinem Kellerstudio zum Gespött. Nicht nur der Präsident, auch die Medien höhnten über „Joes Keller“.
Dazu kam das Ungemach um den Vorwurf eines angeblichen sexuellen Übergriffs durch Ex-Mitarbeiterin Tara Reade 1993 im Senat. Die Aufregung scheint freilich fürs Erste überstanden, da nicht einmal die eigenen Anwälte von der Glaubwürdigkeit ihrer Mandantin überzeugt waren und den Auftrag zurücklegten.
Joe Biden braucht die persönliche Nähe. So wie Donald Trump die Stimmung bei den aufgeladenen Massenkundgebungen aufsaugt, so ist Biden ein Meister des jovialen Plaudertons im kleineren Rahmen. Berater drängen ihn zur Offensive, zum Ausbau seiner Wahlkampforganisation. Sie raten ihm dazu, der Politik Trumps eine positive Botschaft entgegenzusetzen und ein Zukunftsprogramm zu formulieren. Daran arbeitet momentan die BidenKampagne, die möglichst viele Prominente einbindet – von den Ex-BidenKonkurrenten Elizabeth Warren und Bernie Sanders über Shootingstar Alexandria Ocasio-Cortez bis zu Ex-Außenminister John Kerry. Und ganz zuvorderst Barack Obama, das Zugpferd.
Die „Fauxpas-Maschine“. In puncto Wahlkampffinanzierung weist Donald Trump einen großen Vorsprung auf. Biden müht sich aufzuholen. Als Helfer in der Not steht der Milliardär Michael Bloomberg bereit. Derweil überzieht der Präsident seinen Konkurrenten via Twitter mit dem Attribut „Sleepy Joe“und zieht in gewohnter Manier Intelligenz wie Kompetenz in Zweifel.
Die „Fauxpas-Maschine“, als die Biden sich selbst bezeichnet, lieferte prompt neues Futter. In einem Interview
erklärte er gegenüber einem afroamerikanischen Moderator kürzlich: Afroamerikaner, die für Donald Trump stimmen würden, seien nicht schwarz. Der Aufschrei war groß, selbst in der afroamerikanischen Community, die Biden als früherem Obama-Vize zugeneigt ist. Die Reue folgte auf dem Fuße.
Die „Veep-Suche“. Der jüngste Eklat könnte just dafür sorgen, dass der demokratische Präsidentschaftskandidat eine afroamerikanische Politikerin zur Stellvertreterin kürt. Unter der schwarzen Stammklientel wachsen die Erwartungshaltung und der Druck – umso mehr, da die Proteste und Ausschreitungen in Minneapolis infolge von Polizeigewalt die Nation erschüttern.
Stacey Abrams, Senatorin im Lokalparlament in Georgia, führt offen und offensiv eine Kampagne für den Posten an Bidens Seite. Als Favoritin gilt nach wie vor Kamala Harris, die ambitionierte Senatorin aus Kalifornien, die mit dem Amt der Justizministerin in einer Biden-Regierung kokettiert. Nicht abgeschrieben bei der „Veep“-Suche, der Kür einer Vizepräsidentin, sind drei Kandidatinnen, die nicht ins „Farbschema“passen: die Senatorinnen Amy Klobuchar aus Minnesota und Elizabeth Warren aus Massachusetts sowie Gretchen Whitmer, Gouverneurin aus Michigan und Feindbild Trumps aus dem Swing State Michigan.
Der konventionelle Wahlkampf steht auf Stopp. Doch der Präsident will möglichst bald wieder als nationaler Cheerleader durchs Land touren, um in Kundgebungen seine Anhänger zu mobilisieren – spätestens zum 4. Juli, dem Unabhängigkeitstag. Das soll ein Signal aussenden: Die Normalität ist zurück, und es geht wieder aufwärts. Unter diesem Vorzeichen steht auch der Versuch des Präsidenten, den Gipfel der wichtigsten Industrienationen Ende Juni doch in Washington und dem nahe gelegenen Wochenendsitz Camp David abzuhalten – und nicht, wie zuletzt geplant, als virtuelle Konferenz.
Cheerleader und Leader. Dabei will Trump sich als Leader präsentieren, als Führer der westlichen Welt – eine Rolle, die er in der Coronapandemie vermissen ließ. Angela Merkel und Justin Trudeau reagierten verhalten auf die Avancen, sie in die USA zu locken, als Staffage für die Trump-Kampagne.
Im Weißen Haus steigt indessen die Nervosität. In der Vorwoche schlugen die Wahlkampfstrategen Corey Lewandowski und David Bossie Alarm, dass es in den Swing States gar nicht gut läuft für Trump. Biden liegt derzeit nicht nur in den nationalen Umfragen klar voran, sondern auch in den meisten der umfehdeten Bundesstaaten – wie im Übrigen auch Hillary Clinton zu diesem Zeitpunkt vor vier Jahren. Daraufhin bestellte das Weiße Haus die Wahlkampfmanager in Arizona und Florida zu einer Krisensitzung ein. Auch der Senatswahlkampf ruft bei den Republikanern Panik hervor: Die Mehrheit im Senat steht auf dem Spiel.
Es ist die Reaktion auf ein Manöver der Biden-Kampagne. Wahlkampfmanagerin Jen O’Malley Dillon, die schon für Obama aktiv gewesen war, gab die Devise aus, auch in Arizona, Florida und Georgia anzugreifen. Hier rechnen sich die Demokraten Chancen aus, weil viele Trump-Wähler in den Vorstädten, vor allem weibliche mit College-Diplom, wegbrechen. In Florida erwächst dem Präsidenten ein Problem mit den Senioren, den aus dem Norden zugezogenen „Snow Birds“. Im Gegenzug verlieren die Demokraten bei Afroamerikanern und Latinos an Unterstützung. So lautet das Stimmungsbild in der Coronakrise fünf Monate vor dem Tag X.
Nach der tiefen Talsohle, der schwersten Rezession seit 1945 und einer Rekordarbeitslosigkeit von 20 Prozent mit mehr als 40 Millionen Arbeitslosen, bauen die Republikaner auf einen massiven Aufschwung im dritten Quartal und rosige Prognosen für das Jahresende und 2021. Die Zuwachsraten gegenüber den ersten beiden Quartalen werde das Weiße Haus als Erfolg verkaufen, ließ Finanzminister Steven Mnuchin anklingen. Die Amerikaner schreiben dem Präsidenten als Wirtschaftstycoon eine hohe Wirtschaftskompetenz zu und die Fähigkeit, Jobs zu schaffen – es ist seine Kernkompetenz. Führende Ökonomen gehen jedoch davon aus, dass viele Jobs im Zuge der Coronakrise unwiederbringlich verloren gehen werden.
Aufregung löste die Überlegung des Trump-Sohns Eric aus, die Wahl wegen der Coronakrise womöglich zu verschieben. Aus heutiger Sicht erscheint dies undenkbar. Der Präsident baut indes vor: Er führt eine Kampagne, um die Briefwahl zu diskreditieren.
Politshows im August. Wann und wie der Wahlkampf auf Touren kommt, ist ungewiss. Selbst die Parteitage im August, die „Krönungsmessen“für den Präsidenten und seinen Herausforderer, stehen in den Sternen. Die Demokraten verschoben ihren Parteikonvent in Milwaukee um einen Monat auf Mitte August. Sie tüftelten sogar an einem Szenario für einen virtuellen Parteitag. Die große Politshow, die das nationale Rampenlicht garantiert, würde dabei freilich entfallen. Und es würden vermutlich auch nicht die Aufbruchstimmung und die Dynamik aufkommen, die unerlässlich sind für das zehnwöchige Wahlkampf-Finish.
Während die Demokraten ein abgespecktes Programm mit Auftritten von Biden, Obama und Co. planen, hadert und zetert der Präsident mit dem demokratischen Gouverneur von North Carolina. Der republikanische Parteikonvent geht eine Woche nach dem der Demokraten in Charlotte über die Bühne, wo Obama 2012 ins Rennen um seine zweite Amtszeit gestartet war. In der Finanzmetropole sind viele Bewohner alles andere als „happy“, dass bis zu 50.000 Menschen vor Schulbeginn Ende August in ihre Stadt strömen werden. Delegierte, Anhänger, Journalisten und das übliche Fußvolk spülen zwar Millionen Dollar in die Kassen, sind aber auch potenzielle Infektionsherde.
Biden braucht emotionale Nähe, Trump saugt die Wahlkampfatmosphäre auf.
In der tiefsten Rezession seit 1945 steht die Kernkompetenz des Präsidenten auf der Probe.
Heimspiel in Florida? Donald Trump stellte dem Gouverneur ein Ultimatum zu den Hygieneregeln und droht mit Verlegung des Parteikonvents. Aus den republikanisch dominierten Bundesstaaten Texas und Florida kamen bereits Angebote, die Trump-Show auszurichten. Der „Sunshine State“Florida hätte für den Präsidenten einen besonderen Reiz. Es ist ein „Must-win-state“, um die Mehrheit der Wahlmänner zu erlangen. Neuerdings ist es auch sein Heimstaat, seit er seinen Hauptwohnsitz vom feindseligen New York ins sonnige Millionärsghetto Palm Beach in Florida – Sitz seines exklusiven Klubs Mar-a-Lago – verlegt hat.