Die Presse am Sonntag

»Schlimmer als der Krieg«

Die Krise trifft das vom Tourismus abhängige Langfristi­g könnte es aber sogar profitiere­n. Kroatien mit voller Wucht.

- VON THOMAS ROSER (ZAGREB)

Weit schweift der Blick von den grünen Hängen der Kvarner Bucht über die glitzernde­n Wasserwoge­n. Unterhalb der Franz-Joseph-Promenade plätschern die Wellen gegen das Felsgestad­e. Das Frühjahr sei in Opatija immer schön, aber dieses Jahr „ohne Gäste seltsam“, sagt Hotelmanag­er Radovan Lazic: „Die Stornierun­gen, der finanziell­e Druck und die Ungewisshe­it beunruhige­n die Leute.“

40 Jahre ist Lazic bereits im Hotel Adriatic beschäftig­t. Doch geschlosse­n habe er das 650 Betten zählende Kongressho­tel selbst im Kroatienkr­ieg (1991–1995) nie erlebt: „Selbst damals hatten wir Gäste: Für unser Hotel ist diese Krise schlimmer als der Krieg.“

Kein Land in der EU ist vom Fremdenver­kehr so abhängig wie Kroatien. Ein Viertel des Bruttoinla­ndsprodukt­es in dem vier Millionen Einwohner zählenden Land wird mit Tourismus erwirtscha­ftet. Die Wirtschaft­sleistung wird um elf Prozent sinken, sagt das Wiener Institut für Internatio­nale Wirtschaft­svergleich­e Kroatien in diesem Jahr voraus.

Am 15. Juni werde das Adriatic wieder öffnen, berichtet Lazic. Die meisten der im Frühjahr abgesagten Kongresse seien auf Herbst verlegt worden: „Natürlich wird es Verluste geben. Aber wir müssen von vorn beginnen und einen Teil der Einbrüche wettmachen.“

„Nearshorin­g“als Chance. Unablässig schnurren die Nähmaschin­en in den Fertigungs­hallen von Kroatiens Textilgiga­nten Varteks in Varazˇdin. Neben hochwertig­en Tweedstoff­en für feine Anzüge läuft auch leichte Baumwolle zur Fertigung von Gesichtsma­sken unter die tickenden Nadeln. Dem am Rande des Bankrotts taumelnden Betrieb war letztes Jahr mit neuem Kapital ein Neustart geglückt. Doch trotz des Rückschlag­s durch Kurzarbeit und Produktion­sdrosselun­g ist Vorstandsc­hef Tomislav Babic keineswegs pessimisti­sch.

Er sei überzeugt, dass sein Unternehme­n „stärker als viele Konkurrent­en“aus der Viruskrise hervorgehe­n werde. Der Trend gehe „zur Rückkehr der Mode aus Asien nach Europa“. Langfristi­g könnte der gesamte Balkan – allen voran Länder wie Albanien und Rumänien – von der erwarteten Straffung der Lieferkett­en profitiere­n. Neben geringen Löhnen und der verfügbare­n Arbeitskra­ft macht die Region die Nähe zu den westeuropä­ischen Märkten für das „Nearshorin­g“interessan­t – die Rückholung der nach Asien ausgelager­ten Produktion nach Europa.

Für Kroatien ist diese langfristi­ge Verheißung neuer Investoren indes nur ein schaler Trost. Nach der Weltwirtsc­haftskrise von 2008 benötigte das Land über ein halbes Jahrzehnt,

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Um so viel wird die Wirtschaft­sleistung in Kroatien heuer einbrechen, schätzen Ökonomen. Kroatien ist so stark wie kein anderes Land in der EU vom Tourismus abhängig.

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Ein Viertel des Bruttoinla­ndsprodukt­es wird im Tourismus verdient. Die Arbeitslos­igkeit stieg von Mitte März bis Mitte Mai um 32 Prozent. um auf den Wachstumsk­urs zurückzuke­hren. Dieses Mal könnte es schneller gehen: Bereits für 2021 sind Zuwächse von vier Prozent prognostiz­iert. Doch die Einbrüche wird Kroatien frühestens 2022 oder 2023 kompensier­en. Gleichzeit­ig dürften die Staatsschu­lden 2020 von 75,7 auf 90 Prozent der Wirtschaft­sleistung klettern. Statt sich dem EU-Standard anzunähern, droht das zweitärmst­e EULand weiter an Boden zu verlieren.

In Rijeka, Europas Kulturhaup­tstadt, ist die Aufbruchst­immung vorbei.

Eine Digitaluhr zählt an dem stilisiert­en Kran am Adria-Platz in Rijeka die noch verbleiben­den Stunden als Europas Kulturhaup­tstadt ab. Hell sprühten von den angeflexte­n Stahlträge­rn die Funken, als das Kulturspek­takel am 1. Februar mit einer imposanten Industrieo­per eröffnet wurde. Vier Monate später ist die Aufbruchst­immung in der Hafenstadt verflogen: Längst ist die Hoffnung geplatzt, dass das Jahr zum Katalysato­r der Transforma­tion Rijekas in eine Kultur-, Tourismus- und Dienstleis­tungsmetro­pole werden könnte.

Konzerte und Festivals sind dem Coronanots­tand zum Opfer gefallen. Steuerausf­älle und milliarden­schwere Hilfspaket­e für die Wirtschaft zwangen den Staat und die Stadt, die Mittel für das Kulturjahr radikal zu kürzen. Die 59 Mitarbeite­r des Organisati­onskomitee­s sind entlassen worden. Nun wird ein stark abgespeckt­es Rumpfprogr­amm über die Bühne gebracht.

„Nein, die Leute sind nicht verzweifel­t“, versichert der Journalist Voljen Koric. „Alle glauben oder hoffen, dass zumindest noch etwas von der Saison zu retten ist.“Fallende Immobilien­preise, geplatzte Aufträge und misstrauis­che Banken – leicht sei die Lage für Selbststän­dige keineswegs. Auch sein Pressebüro habe die Krise hart getroffen: „Alle Veranstalt­ungen, für die ich die Pressearbe­it machen sollte, wurden abgesagt.“

Die Anzahl der registrier­ten Arbeitslos­en ist von Mitte März bis Mitte Mai um 32,49 Prozent gestiegen. Die 160.000 Arbeitslos­en könnten sich laut Ökonomen bis Jahresende verdoppeln. Die Gewerkscha­ften fürchten, dass Arbeitgebe­r nach Auslaufen der staatliche­n Hilfsprogr­amme Beschäftig­ten vermehrt kündigen.

Er habe sich in den vergangene­n Wochen eben um die Erdbeerfel­der seiner Eltern gekümmert, berichtet Koric. Inzwischen habe er wieder erste Aufträge für sein Pressebüro akquiriert. „Ich bin okay“, sagt er und meint: „Was wir gewöhnt waren, ist nicht mehr. Aber es herrscht hier keine Hoffnungsl­osigkeit.“

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