»Schlimmer als der Krieg«
Die Krise trifft das vom Tourismus abhängige Langfristig könnte es aber sogar profitieren. Kroatien mit voller Wucht.
Weit schweift der Blick von den grünen Hängen der Kvarner Bucht über die glitzernden Wasserwogen. Unterhalb der Franz-Joseph-Promenade plätschern die Wellen gegen das Felsgestade. Das Frühjahr sei in Opatija immer schön, aber dieses Jahr „ohne Gäste seltsam“, sagt Hotelmanager Radovan Lazic: „Die Stornierungen, der finanzielle Druck und die Ungewissheit beunruhigen die Leute.“
40 Jahre ist Lazic bereits im Hotel Adriatic beschäftigt. Doch geschlossen habe er das 650 Betten zählende Kongresshotel selbst im Kroatienkrieg (1991–1995) nie erlebt: „Selbst damals hatten wir Gäste: Für unser Hotel ist diese Krise schlimmer als der Krieg.“
Kein Land in der EU ist vom Fremdenverkehr so abhängig wie Kroatien. Ein Viertel des Bruttoinlandsproduktes in dem vier Millionen Einwohner zählenden Land wird mit Tourismus erwirtschaftet. Die Wirtschaftsleistung wird um elf Prozent sinken, sagt das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche Kroatien in diesem Jahr voraus.
Am 15. Juni werde das Adriatic wieder öffnen, berichtet Lazic. Die meisten der im Frühjahr abgesagten Kongresse seien auf Herbst verlegt worden: „Natürlich wird es Verluste geben. Aber wir müssen von vorn beginnen und einen Teil der Einbrüche wettmachen.“
„Nearshoring“als Chance. Unablässig schnurren die Nähmaschinen in den Fertigungshallen von Kroatiens Textilgiganten Varteks in Varazˇdin. Neben hochwertigen Tweedstoffen für feine Anzüge läuft auch leichte Baumwolle zur Fertigung von Gesichtsmasken unter die tickenden Nadeln. Dem am Rande des Bankrotts taumelnden Betrieb war letztes Jahr mit neuem Kapital ein Neustart geglückt. Doch trotz des Rückschlags durch Kurzarbeit und Produktionsdrosselung ist Vorstandschef Tomislav Babic keineswegs pessimistisch.
Er sei überzeugt, dass sein Unternehmen „stärker als viele Konkurrenten“aus der Viruskrise hervorgehen werde. Der Trend gehe „zur Rückkehr der Mode aus Asien nach Europa“. Langfristig könnte der gesamte Balkan – allen voran Länder wie Albanien und Rumänien – von der erwarteten Straffung der Lieferketten profitieren. Neben geringen Löhnen und der verfügbaren Arbeitskraft macht die Region die Nähe zu den westeuropäischen Märkten für das „Nearshoring“interessant – die Rückholung der nach Asien ausgelagerten Produktion nach Europa.
Für Kroatien ist diese langfristige Verheißung neuer Investoren indes nur ein schaler Trost. Nach der Weltwirtschaftskrise von 2008 benötigte das Land über ein halbes Jahrzehnt,
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Um so viel wird die Wirtschaftsleistung in Kroatien heuer einbrechen, schätzen Ökonomen. Kroatien ist so stark wie kein anderes Land in der EU vom Tourismus abhängig.
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Ein Viertel des Bruttoinlandsproduktes wird im Tourismus verdient. Die Arbeitslosigkeit stieg von Mitte März bis Mitte Mai um 32 Prozent. um auf den Wachstumskurs zurückzukehren. Dieses Mal könnte es schneller gehen: Bereits für 2021 sind Zuwächse von vier Prozent prognostiziert. Doch die Einbrüche wird Kroatien frühestens 2022 oder 2023 kompensieren. Gleichzeitig dürften die Staatsschulden 2020 von 75,7 auf 90 Prozent der Wirtschaftsleistung klettern. Statt sich dem EU-Standard anzunähern, droht das zweitärmste EULand weiter an Boden zu verlieren.
In Rijeka, Europas Kulturhauptstadt, ist die Aufbruchstimmung vorbei.
Eine Digitaluhr zählt an dem stilisierten Kran am Adria-Platz in Rijeka die noch verbleibenden Stunden als Europas Kulturhauptstadt ab. Hell sprühten von den angeflexten Stahlträgern die Funken, als das Kulturspektakel am 1. Februar mit einer imposanten Industrieoper eröffnet wurde. Vier Monate später ist die Aufbruchstimmung in der Hafenstadt verflogen: Längst ist die Hoffnung geplatzt, dass das Jahr zum Katalysator der Transformation Rijekas in eine Kultur-, Tourismus- und Dienstleistungsmetropole werden könnte.
Konzerte und Festivals sind dem Coronanotstand zum Opfer gefallen. Steuerausfälle und milliardenschwere Hilfspakete für die Wirtschaft zwangen den Staat und die Stadt, die Mittel für das Kulturjahr radikal zu kürzen. Die 59 Mitarbeiter des Organisationskomitees sind entlassen worden. Nun wird ein stark abgespecktes Rumpfprogramm über die Bühne gebracht.
„Nein, die Leute sind nicht verzweifelt“, versichert der Journalist Voljen Koric. „Alle glauben oder hoffen, dass zumindest noch etwas von der Saison zu retten ist.“Fallende Immobilienpreise, geplatzte Aufträge und misstrauische Banken – leicht sei die Lage für Selbstständige keineswegs. Auch sein Pressebüro habe die Krise hart getroffen: „Alle Veranstaltungen, für die ich die Pressearbeit machen sollte, wurden abgesagt.“
Die Anzahl der registrierten Arbeitslosen ist von Mitte März bis Mitte Mai um 32,49 Prozent gestiegen. Die 160.000 Arbeitslosen könnten sich laut Ökonomen bis Jahresende verdoppeln. Die Gewerkschaften fürchten, dass Arbeitgeber nach Auslaufen der staatlichen Hilfsprogramme Beschäftigten vermehrt kündigen.
Er habe sich in den vergangenen Wochen eben um die Erdbeerfelder seiner Eltern gekümmert, berichtet Koric. Inzwischen habe er wieder erste Aufträge für sein Pressebüro akquiriert. „Ich bin okay“, sagt er und meint: „Was wir gewöhnt waren, ist nicht mehr. Aber es herrscht hier keine Hoffnungslosigkeit.“