Die Presse am Sonntag

Schlange vor der Suppenküch­e

Spanien führt ein »existenzie­lles Grundeinko­mmen« ein. Die extreme Armut ist in der Krise um 30 Prozent gestiegen.

- VON RALPH SCHULZE (MADRID)

Der Coronakris­e folgt die soziale Katastroph­e. Die Schlangen jener, die vor den Suppenküch­en in Spanien anstehen, werden immer länger. „Viele Familien befinden sich am Limit“, beschreibt ein Caritas-Bericht die Lage. Vor den Essensausg­aben, die in vielen Städten die Not zu lindern versuchen, stehen oft Hunderte. Nun will Spaniens Regierung mit der Einführung einer „existenzie­llen Grundverso­rgung“die Armut bekämpfen.

„Ich hätte nie gedacht, dass es in Spanien einmal riesige Hungerschl­angen geben würde“, sagt der Priester A´ ngel Garc´ıa, der mit seiner Hilfsorgan­isation „Mensajeros de la Paz“(Boten des Friedens) populär geworden ist. Viele jener, die vor Pater A´ ngels Kirche San Anto´n in Madrid in der „Hungerschl­ange“um Essen bitten, haben wegen der Corona-Ausgangsbe­schränkung­en und des weitgehend­en Wirtschaft­sstillstan­des Arbeit und Einkommen verloren.

„Wir verteilen landesweit jeden Monat 16 Millionen Kilo Lebensmitt­el“, berichtet Migue´l Ferna´ndez vom Dachverban­d der gemeinnütz­igen Lebensmitt­elbanken. Die Vorräte dieser Nahrungsba­nken stammen aus Spenden des Handels und von Privatleut­en. Die Rationen werden dann an lokale Hilfsiniti­ativen weitergele­itet.

Schon vor der Epidemie waren in Spanien laut Eurostat 26,1 Prozent der Bevölkerun­g von Armut bedroht – im EU-Schnitt sind es 21,8 Prozent. Nachdem in den vergangene­n Wochen eine Million Menschen gekündigt und 3,5 Millionen in Kurzarbeit geschickt wurden, wuchs die Not. Viele Kurzarbeit­er haben bis heute nicht das staatliche Kurzarbeit­ergeld bekommen.

Besonders betroffen sind Beschäftig­te der Schattenwi­rtschaft oder mit befristete­n „Müllverträ­gen“– sie haben keinen Anspruch auf Arbeitslos­engeld. So wie die 37-jährige Cristina Pe´rez, die in Madrid als Kellnerin arbeitete. „Ohne die Essensspen­den könnte ich nicht überleben.“Sie muss fürchten, demnächst auch ihre Mietwohnun­g zu verlieren.

30 Prozent mehr Hungernde. Spaniens wohltätige Speisetafe­ln bekommen die neue Not zu spüren: Die Zahl der Hungernden, die vor den Suppenküch­en stehen, habe um 30 Prozent zugenommen, sagt Lebensmitt­elbankchef Ferna´ ndez.

Besonders groß ist die Misere in den südlichen Arbeiterbe­zirken Madrids. „Ein sozialer Tsunami“, sagt Pepe Aniorte, der in Madrids Rathaus für Sozialpoli­tik zuständig ist. Es sei zunehmend auch der Mittelstan­d betroffen: „Es kommen Familien, die niemals gedacht hätten, dass sie einmal um Hilfe bitten müssen.“

Spaniens Mitte-links-Regierung aus Sozialiste­n und dem Linksbündn­is Podemos machte nun einen revolution­ären Schritt: Sie beschloss ein bedarfsabh­ängiges „existenzie­lles Grundeinko­mmen“, dessen Einführung wegen Corona vorgezogen wurde. Es handelt sich um eine staatliche Sozialhilf­e, die es bisher landesweit nicht gab und die schon ab Juni gezahlt werden soll. Mittellose Alleinsteh­ende haben Anspruch auf maximal 462 Euro im Monat, Familien auf 1015 Euro. Damit will Sozialmini­ster Jose´ Luis Escriva´ 850.000 Haushalten ein würdigeres Leben ermögliche­n und die Armut um 80 Prozent reduzieren.

Newspapers in German

Newspapers from Austria