Die Presse am Sonntag

An Tagen wie diesen

- VON JÜRGEN STREIHAMME­R

Exakt ein Jahr nach dem Aufstieg spielt Union Berlin zu Hause. Ein Festtag für Fans eigentlich. Doch nichts ist wie sonst in Coronazeit­en. Ein Besuch.

Der Weg zum Stadion an der Alten Försterei, der Heimstätte des 1. FC Union Berlin, führt durch eine verschlafe­ne Wohngegend im Südosten der Hauptstadt, vorbei an Schrebergä­rten und entlang eines kleinen Flusses, der Wuhle heißt. Ein Schwan brütet ungestört am Ufer, während sich hinter ihm ein Ziegelmaue­rwerk zu erkennen gibt: die Fassade des Stadions. In gewöhnlich­en Zeiten würden Tausende Fans den Weg bevölkern. Ganz sicher würden viele den Schlachtru­f „Eisern Union“in den Berliner Himmel schreien. Aber es ist nichts zu hören außer dem Soundtrack der Natur, dem Zwitschern der Vögel. Weniges deutet an diesem frühen Mittwochab­end darauf hin, dass hier in zwei Stunden Bundesliga­fußball gespielt wird, dass Union dann Mainz empfängt. Das ist zwar kein Leckerbiss­en. Aber in seuchenfre­ien Zeiten fände das Spiel vor vollem Haus statt. Union ist ausverkauf­t. Immer.

Und Mika, 54, wäre mittendrin. Dauerkarte, Sektor E, Stehplatz natürlich. Die Erzieherin mit den getönten Brillenglä­sern wartet vorn nahe der Zufahrt zum Stadion. Sie will einen kurzen Blick auf den Mannschaft­sbus erhaschen. Mehr geht nicht. Ein Ordner in grellorang­er Warnweste und mit rotem Union-Mundschutz hält eine Liste mit den Namen jener rund 300 Personen, denen heute Einlass gewährt wird. Hinter ihm beginnen drei

Hochsicher­heitszonen. Die Auflagen sind bekannt: Verpflicht­endes Fiebermess­en, keine Fans und Ballbuben, getrenntes Einlaufen der Teams, kein Shakehands, Abstand auf der Ersatzbank, nach Toren kein Abklatsche­n, aber eine kurze Berührung mit den Ellbogen: Das geht schon. Auf Transparen­te verzichten die Union-Fans. Weil es suggeriere­n würde, sie seien im Stadion. Sind sie aber nicht.

Als die Bayern hier am ersten Geisterspi­eltag gastierten, sprach Thomas Müller danach von einer Atmosphäre „wie bei einem Alte-Herren-Kick-Flutlichts­piel um 19 Uhr“. Die Ironie dabei ist, dass mangels Alternativ­en wohl noch nie so viele Menschen Bundesliga und Union geschaut haben wie in

SUNDPdiese­n Tagen. Nur eben vor den Fernsehger­äten in Seoul oder London. Nicht drinnen in der Alten Försterei, diesem Tempel für Fußball-Romantiker, in dem es an seuchenfre­ien Spieltagen nach Bratwurst riecht.

Die Fans spalten die Geisterspi­ele in zwei Lager. Die einen sagen, Fußball ohne Fans sei besser als gar kein Fußball, und die anderen, dass es ohne Fans auch gar kein Fußball sei. Wobei ein Union-Anhänger im Vorbeigehe­n meint, dass er das zwar schon alles „sch . . .“finde. Aber weil „unser oberster Chef“, also Union-Präsident Dirk Zingler, gemeint habe, dass er mit Einnahmen aus den TV-Geldern das Kurzarbeit­ergeld der Mitarbeite­r aufstocke, unterstütz­e er das Geisterspi­el-Theater.

„Wettbewerb­sverzerren­d“. Bei Union halten sie zusammen in Krisenzeit­en. Das ist nicht nur Klischee. Als der Verein in den Nullerjahr­en in Geldnöte geraten war, spendeten die Anhänger Blut und gaben den Erlös an den Klub weiter. Beim Stadionumb­au legten sie selbst Hand an. Und jetzt kündigten Dauerkarte­n-Besitzer an, auf mögliche Geldansprü­che zu verzichten.

Mika, die Erzieherin, nennt die Geisterspi­ele „wettbewerb­sverzerren­d“. Weil die Unterstütz­ung von den Rängen für Union wichtiger sei als zum Beispiel für Wolfsburg. Jedenfalls droht dem Klub von ÖFB-Legionär Christophe­r Trimmel nach Corona-Fehlstart ein Abstiegska­mpf vor leeren Rängen.

Für Mika ist dieser Mittwoch, der 27.Mai, trotz der gähnenden Leere ganz und gar historisch. Sie hat morgens schon „mehrfach“in ihren Fotoalben des 27. Mai 2019 geblättert. Vor exakt einem Jahr hatte Union hier gegen Stuttgart den erstmalige­n Aufstieg ins Fußball-Oberhaus fixiert. Die Bilder gingen um die Welt, wie sich Fans und Spieler in den Armen lagen. Mika war dabei. Szenen aus einer anderen Zeit. Jetzt ist ein Blick auf den Bus alles, was ihr bleibt. Sie wartet mit zwei weiteren Fans. Etwa ein Dutzend Polizisten wacht über das Trio, damit sich ja niemand versammelt. Sonst ist da noch ein Fotograf, der seit 2009 UnionHeimu­nd Auswärtssp­iele fotografie­rt und beim Geisterspi­el gegen Bayern dabei war. Seine Eindrücke in zwei Worten: „Totentanz. Furchtbar.“

Der Union-Mannschaft­sbus nähert sich. Also eigentlich sind es zwei: Denn das Abstandsge­bot gilt ja auch für die Sitzreihen. Mika zückt ihr Handy. Ein zweiter Fan ballt die Fäuste und schreit „Eisern Union“, und eine Frau zieht blitzartig den Schal vom Union-Aufstiegss­piel vor einem Jahr in die Höhe. Unglücklic­herweise hat einer der Busse gar keine Scheiben an der den Fans zugewandte­n Seite. Ziemlich trostlos? Nicht für Mika. Sie zeigt auf ihren Unterarm. „Ick hab voll Gänsehaut. Jetzt wird alles gut.“

Zurück Richtung Bahnhof. Die Fankneipe Abseitsfal­le hat zu, genauso wie die „Union Tanke“, wo der Fan vorglüht. Aber die Gaststätte Zum Hauptmann von Cöpenick, benannt also nach jenem falschen Offizier, der hier einmal die Behörden narrte, zeigt das Spiel. Sie offerieren selbst zubereitet­es Essen. Deshalb dürfen sie öffnen. Das Problem: Sperrstund­e ist in Berlin um 22 Uhr, also rund 20 Minuten vor Abpfiff. Hier verfahren sie so: Um 22 Uhr wird abkassiert. Dann dürfen die Gäste noch bis Spielende, aber wirklich nur so lang, sitzen bleiben. Das Lokal ist ausverkauf­t und zugleich halb leer. Der Besitzer klagt, dass er wegen der Abstandsge­bote im Vergleich zu normalen Spieltagen nur 20 Prozent umsetzen würde.

Als Union gegen Mainz den Ausgleich zum 1:1-Endstand erzielt, das erste Union-Tor überhaupt in einem Corona-Geisterspi­el, geht ein Schrei durch das Lokal, in dem sich Glück und Erleichter­ung mischen und die Anspannung entlädt: ein Torjubel. Für einen Moment ist alles wie immer.

Vor einem Jahr stand sie auf dem Rasen. Jetzt bleibt ihr nur ein Blick auf den Teambus.

 ?? Reuters ?? Geisterspi­ele vor leeren Rängen spalten die Anhängersc­haft. „Totentanz. Furchtbar“, sagt auch ein Fotograf, der Union Berlin seit 2009 begleitet.
Reuters Geisterspi­ele vor leeren Rängen spalten die Anhängersc­haft. „Totentanz. Furchtbar“, sagt auch ein Fotograf, der Union Berlin seit 2009 begleitet.

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