An Tagen wie diesen
Exakt ein Jahr nach dem Aufstieg spielt Union Berlin zu Hause. Ein Festtag für Fans eigentlich. Doch nichts ist wie sonst in Coronazeiten. Ein Besuch.
Der Weg zum Stadion an der Alten Försterei, der Heimstätte des 1. FC Union Berlin, führt durch eine verschlafene Wohngegend im Südosten der Hauptstadt, vorbei an Schrebergärten und entlang eines kleinen Flusses, der Wuhle heißt. Ein Schwan brütet ungestört am Ufer, während sich hinter ihm ein Ziegelmauerwerk zu erkennen gibt: die Fassade des Stadions. In gewöhnlichen Zeiten würden Tausende Fans den Weg bevölkern. Ganz sicher würden viele den Schlachtruf „Eisern Union“in den Berliner Himmel schreien. Aber es ist nichts zu hören außer dem Soundtrack der Natur, dem Zwitschern der Vögel. Weniges deutet an diesem frühen Mittwochabend darauf hin, dass hier in zwei Stunden Bundesligafußball gespielt wird, dass Union dann Mainz empfängt. Das ist zwar kein Leckerbissen. Aber in seuchenfreien Zeiten fände das Spiel vor vollem Haus statt. Union ist ausverkauft. Immer.
Und Mika, 54, wäre mittendrin. Dauerkarte, Sektor E, Stehplatz natürlich. Die Erzieherin mit den getönten Brillengläsern wartet vorn nahe der Zufahrt zum Stadion. Sie will einen kurzen Blick auf den Mannschaftsbus erhaschen. Mehr geht nicht. Ein Ordner in grelloranger Warnweste und mit rotem Union-Mundschutz hält eine Liste mit den Namen jener rund 300 Personen, denen heute Einlass gewährt wird. Hinter ihm beginnen drei
Hochsicherheitszonen. Die Auflagen sind bekannt: Verpflichtendes Fiebermessen, keine Fans und Ballbuben, getrenntes Einlaufen der Teams, kein Shakehands, Abstand auf der Ersatzbank, nach Toren kein Abklatschen, aber eine kurze Berührung mit den Ellbogen: Das geht schon. Auf Transparente verzichten die Union-Fans. Weil es suggerieren würde, sie seien im Stadion. Sind sie aber nicht.
Als die Bayern hier am ersten Geisterspieltag gastierten, sprach Thomas Müller danach von einer Atmosphäre „wie bei einem Alte-Herren-Kick-Flutlichtspiel um 19 Uhr“. Die Ironie dabei ist, dass mangels Alternativen wohl noch nie so viele Menschen Bundesliga und Union geschaut haben wie in
SUNDPdiesen Tagen. Nur eben vor den Fernsehgeräten in Seoul oder London. Nicht drinnen in der Alten Försterei, diesem Tempel für Fußball-Romantiker, in dem es an seuchenfreien Spieltagen nach Bratwurst riecht.
Die Fans spalten die Geisterspiele in zwei Lager. Die einen sagen, Fußball ohne Fans sei besser als gar kein Fußball, und die anderen, dass es ohne Fans auch gar kein Fußball sei. Wobei ein Union-Anhänger im Vorbeigehen meint, dass er das zwar schon alles „sch . . .“finde. Aber weil „unser oberster Chef“, also Union-Präsident Dirk Zingler, gemeint habe, dass er mit Einnahmen aus den TV-Geldern das Kurzarbeitergeld der Mitarbeiter aufstocke, unterstütze er das Geisterspiel-Theater.
„Wettbewerbsverzerrend“. Bei Union halten sie zusammen in Krisenzeiten. Das ist nicht nur Klischee. Als der Verein in den Nullerjahren in Geldnöte geraten war, spendeten die Anhänger Blut und gaben den Erlös an den Klub weiter. Beim Stadionumbau legten sie selbst Hand an. Und jetzt kündigten Dauerkarten-Besitzer an, auf mögliche Geldansprüche zu verzichten.
Mika, die Erzieherin, nennt die Geisterspiele „wettbewerbsverzerrend“. Weil die Unterstützung von den Rängen für Union wichtiger sei als zum Beispiel für Wolfsburg. Jedenfalls droht dem Klub von ÖFB-Legionär Christopher Trimmel nach Corona-Fehlstart ein Abstiegskampf vor leeren Rängen.
Für Mika ist dieser Mittwoch, der 27.Mai, trotz der gähnenden Leere ganz und gar historisch. Sie hat morgens schon „mehrfach“in ihren Fotoalben des 27. Mai 2019 geblättert. Vor exakt einem Jahr hatte Union hier gegen Stuttgart den erstmaligen Aufstieg ins Fußball-Oberhaus fixiert. Die Bilder gingen um die Welt, wie sich Fans und Spieler in den Armen lagen. Mika war dabei. Szenen aus einer anderen Zeit. Jetzt ist ein Blick auf den Bus alles, was ihr bleibt. Sie wartet mit zwei weiteren Fans. Etwa ein Dutzend Polizisten wacht über das Trio, damit sich ja niemand versammelt. Sonst ist da noch ein Fotograf, der seit 2009 UnionHeimund Auswärtsspiele fotografiert und beim Geisterspiel gegen Bayern dabei war. Seine Eindrücke in zwei Worten: „Totentanz. Furchtbar.“
Der Union-Mannschaftsbus nähert sich. Also eigentlich sind es zwei: Denn das Abstandsgebot gilt ja auch für die Sitzreihen. Mika zückt ihr Handy. Ein zweiter Fan ballt die Fäuste und schreit „Eisern Union“, und eine Frau zieht blitzartig den Schal vom Union-Aufstiegsspiel vor einem Jahr in die Höhe. Unglücklicherweise hat einer der Busse gar keine Scheiben an der den Fans zugewandten Seite. Ziemlich trostlos? Nicht für Mika. Sie zeigt auf ihren Unterarm. „Ick hab voll Gänsehaut. Jetzt wird alles gut.“
Zurück Richtung Bahnhof. Die Fankneipe Abseitsfalle hat zu, genauso wie die „Union Tanke“, wo der Fan vorglüht. Aber die Gaststätte Zum Hauptmann von Cöpenick, benannt also nach jenem falschen Offizier, der hier einmal die Behörden narrte, zeigt das Spiel. Sie offerieren selbst zubereitetes Essen. Deshalb dürfen sie öffnen. Das Problem: Sperrstunde ist in Berlin um 22 Uhr, also rund 20 Minuten vor Abpfiff. Hier verfahren sie so: Um 22 Uhr wird abkassiert. Dann dürfen die Gäste noch bis Spielende, aber wirklich nur so lang, sitzen bleiben. Das Lokal ist ausverkauft und zugleich halb leer. Der Besitzer klagt, dass er wegen der Abstandsgebote im Vergleich zu normalen Spieltagen nur 20 Prozent umsetzen würde.
Als Union gegen Mainz den Ausgleich zum 1:1-Endstand erzielt, das erste Union-Tor überhaupt in einem Corona-Geisterspiel, geht ein Schrei durch das Lokal, in dem sich Glück und Erleichterung mischen und die Anspannung entlädt: ein Torjubel. Für einen Moment ist alles wie immer.
Vor einem Jahr stand sie auf dem Rasen. Jetzt bleibt ihr nur ein Blick auf den Teambus.