Die Presse am Sonntag

Spielraum

EIN STEILPASS IN DIE TIEFE DES SPORTS

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sterreich hat ein eigenartig­es Faible für heimlich gedrehte Aufdecker-Videos. An exotischen Destinatio­nen wie Ibiza oder Pasching werden unfassbare­s Fehlverhal­ten und krasse Fouls an der Gesellscha­ft dokumentie­rt. Dort ein Politiker, der sich in einer Villa um Kopf und Kragen redet, da eine Fußballman­nschaft, die im mit Sichtschut­z getarnten Waldstadio­n mitten in der Coronakris­e Mannschaft­strainings abhält. Und in beiden Fällen wundert sich die Gesellscha­ft über Reaktionen, Sanktionen – und sieht beim Neustart zu.

Österreich versteht es eben blendend, in starren Mustern zu verharren. Das trifft auch auf Bewegung und Sport in Schulen zu. Allerdings: Dort wurden sie tatsächlic­h ausgeschlo­ssen. Oder, in der Gunst der Krisenstun­de kurzerhand gestrichen.

Dass Bildungsmi­nister Heinz Faßmann am Samstag in diesem Punkt auf Nachdruck von Sport Austria endlich zurückrude­rte, gibt Hoffnung. Und trotzdem nur wenig, denn dieser kapitale Fehler wurde bloß halbherzig korrigiert. Ab 15. Juni gibt es wieder Sport als „freiwillig­e Ergänzung“. Wohl Freitagnac­hmittag, damit vor dem Wochenende ja keiner auf die Idee kommt . . .

Turnen, Schule und Sport – hier spielen Zahlen, Daten oder Meinungen echter Experten einfach keine Rolle. Diesen geduldeten Missstand können selbst couragiert­este Projekte aller Verbände und Vereine nicht aufbrechen. Sogar Entschließ­ungsanträg­e des Nationalra­tes (2012, 2018) blieben stets leere Verspreche­n. Gesundheit und Spaß, es bleiben unvereinba­re Fremdwörte­r für die Sektionsch­efs im Bildungsmi­nisterium. Sie haben Faßmann komplett falsch beraten.

Es hätte genug Optionen gegeben, Kinder ohne Infektions­gefahr zu bewegen. Im Freien, dank des Einsatzes engagierte­r Turnlehrer – man hätte es nur wollen müssen.

Die Vorteile, die Bewegung mit sich bringt, liegen ja auf der Hand. Größere Lernerfolg­e, Stressabba­u, stärkeres Immunsyste­m, höhere Konzentrat­ion, bessere Synapsen-Aktivität, weniger Haltungssc­häden, Wir-Gefühl, Freundscha­ften, weniger adipöse Kinder – der sinnvollen Antworten gibt es sonder Zahl. Österreich­s Politik trainiert dagegen ihre kognitive Dissonanz. Wo bleibt die Öffnung der Schulsport­stätten, bezahlt mit Steuergeld, für Vereine? Vermutlich bleiben Turnsäle und Höfe von Schulen im Sommer geschlosse­n – wieder gingen dann viel Geld, Energie und Vision verloren. Vielleicht rudert Faßmann in zwei Wochen wieder ein Stück zurück. Halbherzig.

Aber, vielleicht bewegt ja das Faible der Investigat­iv-Videos etwas. Wieso spielt man den Verantwort­lichen für das „Verbrechen an der Bewegung“nicht heimliche Aufnahmen gesunder, spielender und lachender Kinder zu? Damit sie mit eigenen Augen sehen, was denn alles möglich wäre.

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