Kriminalität in Großbritannien
Das Coronavirus hat die nicht beendet, aber in einigen Bereichen reduziert, in anderen verändert. Nun fürchten Experten indes eine Explosion.
us der kleinen Gerichtschronik Englands: „Vor dem Bezirksgericht Chelmsford Verhandlun ggegeneinen28-jährigen Mann, der drei Polizisten angehustet hatte und behauptete, an dem Coronavirus erkrankt zu sein.“Oder aus Leeds: „Ein 57-Jähriger wurde zu sechs Monaten Haft verurteilt, nachdem er Polizisten angespuckt hatte, die ihn aufgriffen, nachdem er sich vor einem Geschäftseingang vorgedrängt hatte.“In Bolten fasste ein 23-Jähriger sogar ein Jahr Haft aus, weil er sich betrunken der Festnahme widersetzt und gedroht hatte, die Polizisten mit dem Coronavirus zu infizieren.
Ein neues Leben gebiert neues Verbrechen. Mit den am 23. März verhängten Ausnahmeregelungen zur Eindämmung der Coronapandemie brachte die britische Regierung das öffentliche Leben im Land zum Stillstand. Seither fiel die Krim inalitätsrate in England und Wales um 28 Prozent gegenüber dem Vor jahr. Die Hauptstadt London sah erstmals seit Jahren ein Abflauen der Welle der Gewalt unter Jugendlichen: Die Zahl der notorischen Messerstechereien sank um 69 Prozent. Polizeichefin Cressida Dick: „Es ist eine schreckliche Zeit für uns alle, aber es gibt auch Hoffnungsschimmer.“
Kokain unter Schutzmasken. Schnell passte sich der Drogenhandel an die neuen Zeiten an. So wie die Menschen zu Beginn der Krise in Panik Klopapier horteten, gingen viele Rauschgifthändler zu Massenlieferungen über: „Bisher hätte ein Drogenverkäufer, der 100 Kilo Kokain nach Großbritannien bringen wollte, vier Lieferungen zu je 25 Kilo gemacht. Wenn ein Transport entdeckt wurde, blieben immer noch drei“, berichtet Lawrence Gibbons, oberster Drogenjäger der National Crime Agency. „Jetzt gibt es weniger Möglichkeiten, und sie setzen alles auf eine Karte.“
In Folge gelingen den Behörden immer wieder spektakuläre Coups: Ein Lkw, der Schutzmasken aus Frankreich bringen sollte, hatte auch Kokain geladen. Das weiße Zauberpulver fand sich auch in Lieferungen von Papier, Karton und Bausteinen. Noch vor dem Eintreffen in Großbritannien beschlagnahmten die belgischen Behörden in Antwerpen einen Container aus Südamerika, der statt des angegebenen Tintenfisches Rauschgift enthielt. Mehr als zehn Tonnen an schweren Drogen wurden in den ersten zwei Monaten der Ausgangssperre allein in Großbritannien beschlagnahmt.
Auch für den Vertrieb musste man sich neue Wege überlegen. Nicht mehr länger können jugendliche Drogenkuriere mit Zügen über die berüchtigten „County Lines“ins Land geschickt werden. Gerichtsanhängig wurden dagegen Fälle von Dealern, die Krankenpflegern Dienstausweise stahl en, um sich in Warteschlangen vor Supermärkten frei umtun zu können. Andere nützen Zustelldienste, um Ware der besonderen Art abzusetzen: „Zwei Pizzas und einen Joint, bitte“, sozusagen. „Unter den Bedingungen der Ausgangssperre liefern Zusteller die perfekte Tarnung“, bemerkte auch Interpol.
Mehr häusliche Gewalt. Besorgniserregend zugenommen haben indes während der Ausgangsbeschränkungen die Fälle häuslicher Gewalt. Wohlfahrtsorganisationen berichten von einer Zunahme der Notrufe um 50 Prozent, aber in vielen Fällen kommt jede Intervention zu spät: „Die Opfer sitzen jetzt mit den Tätern fest und haben keine Chance auf ein Entkommen“, sagt etwa Rachel Horman von der Hilfsgruppe Paladin. Die Polizei meldet rund 100 Festnahmen am Tag, eine Zunahme von neun Prozent. Und die Dunkelziffer bleibt hoch. Der ehemalige Scotland-Yard-Chef John Sutherland: „Häusliche Gewalt ist das größte Kriminalitätsproblem unseres Landes. Im Durchschnitt werden zwei Frauen pro Woche getötet. Drei nehmen sich das Leben aus Verzweiflung. Jede vierte Frau wird im Laufe ihres Lebens mit Gewalt konfrontiert.“
Angesichts der Lage stellte die Regierung nicht nur Hilfsmittel zur Verfügung, sondern auch klar, dass bei Gefahr in Verzug die Ausgangssperre nicht gelten würde. Kommunalminister Robert Jenrick versprach: „Sie sind nicht allein – wir sind für Sie da.“
Im Web gären Terror und Extremismus. Dass sich das Leben in den vergangenen Wochen zum Gros von der Realität in den Cyberspace verlagerte, leistete auch anderen Phänomenen Vorschub. Überwachungsdienste sprechen von einer Zunahme der Websites mit Kinderpornos, Sicherheitskräfte orten verstärkte Aktivitäten von Terrorgruppen. „Unser Antiradikalisierungsprogramm ist praktisch kollabiert“, sagt der Polizeihauptmann Nik Adams. „Unsere Jugendbetreuer und Lehrer treffen keine gefährdeten Jugendlichen mehr, die dafür umso mehr Zeit online verbringen.“Unter anderem werde dort mit Verschwörungstheorien rekrutiert.
Eine Hochsaison erleben auch Betrüger, die sich in der Krise des Inter
Die Zahl der notorischen Messerstechereien in London sanken um 69 Prozent.
Aggressionsstau und Gefahr von Massenarbeitslosigkeit lassen Böses befürchten.
nets bedienen, um die Not ihrer Mitbürger auszunützen. „Wir entdecken jede Woche 500 betrügerische Websites“, sagt Jeremy Fleming, Chef der nationalen Überwachungsagentur GCHQ. Schon wird befürchtet, dass sich Kriminelle auch das neue Viruskontrollsystem zunutze machen könnten, bei dem Bürger per Anruf oder SMS zur Isolation aufgefordert werden.
Das baldi ge Ende der Einschränkungen ruft unter vielen Experten ebenfalls Sorge hervor. Drohende Massenarbeitslosigkeit, der Verlust an Orientierung und Ordnung und viel aufgestaute Aggression lassen Böses befürchten. John Apter von der Police Federation of England and Wales warnt: „Das ist ein Druckkochtopf, und wir sind uns bewusst, dass manche nur darauf warten, sobald wie möglich größtmöglichen Schaden anzurichten.“