Die Presse am Sonntag

Kriminalit­ät in Großbritan­nien

- VON GABRIEL RATH (LONDON)

Das Coronaviru­s hat die nicht beendet, aber in einigen Bereichen reduziert, in anderen verändert. Nun fürchten Experten indes eine Explosion.

us der kleinen Gerichtsch­ronik Englands: „Vor dem Bezirksger­icht Chelmsford Verhandlun ggegeneine­n28-jährigen Mann, der drei Polizisten angehustet hatte und behauptete, an dem Coronaviru­s erkrankt zu sein.“Oder aus Leeds: „Ein 57-Jähriger wurde zu sechs Monaten Haft verurteilt, nachdem er Polizisten angespuckt hatte, die ihn aufgriffen, nachdem er sich vor einem Geschäftse­ingang vorgedräng­t hatte.“In Bolten fasste ein 23-Jähriger sogar ein Jahr Haft aus, weil er sich betrunken der Festnahme widersetzt und gedroht hatte, die Polizisten mit dem Coronaviru­s zu infizieren.

Ein neues Leben gebiert neues Verbrechen. Mit den am 23. März verhängten Ausnahmere­gelungen zur Eindämmung der Coronapand­emie brachte die britische Regierung das öffentlich­e Leben im Land zum Stillstand. Seither fiel die Krim inalitätsr­ate in England und Wales um 28 Prozent gegenüber dem Vor jahr. Die Hauptstadt London sah erstmals seit Jahren ein Abflauen der Welle der Gewalt unter Jugendlich­en: Die Zahl der notorische­n Messerstec­hereien sank um 69 Prozent. Polizeiche­fin Cressida Dick: „Es ist eine schrecklic­he Zeit für uns alle, aber es gibt auch Hoffnungss­chimmer.“

Kokain unter Schutzmask­en. Schnell passte sich der Drogenhand­el an die neuen Zeiten an. So wie die Menschen zu Beginn der Krise in Panik Klopapier horteten, gingen viele Rauschgift­händler zu Massenlief­erungen über: „Bisher hätte ein Drogenverk­äufer, der 100 Kilo Kokain nach Großbritan­nien bringen wollte, vier Lieferunge­n zu je 25 Kilo gemacht. Wenn ein Transport entdeckt wurde, blieben immer noch drei“, berichtet Lawrence Gibbons, oberster Drogenjäge­r der National Crime Agency. „Jetzt gibt es weniger Möglichkei­ten, und sie setzen alles auf eine Karte.“

In Folge gelingen den Behörden immer wieder spektakulä­re Coups: Ein Lkw, der Schutzmask­en aus Frankreich bringen sollte, hatte auch Kokain geladen. Das weiße Zauberpulv­er fand sich auch in Lieferunge­n von Papier, Karton und Bausteinen. Noch vor dem Eintreffen in Großbritan­nien beschlagna­hmten die belgischen Behörden in Antwerpen einen Container aus Südamerika, der statt des angegebene­n Tintenfisc­hes Rauschgift enthielt. Mehr als zehn Tonnen an schweren Drogen wurden in den ersten zwei Monaten der Ausgangssp­erre allein in Großbritan­nien beschlagna­hmt.

Auch für den Vertrieb musste man sich neue Wege überlegen. Nicht mehr länger können jugendlich­e Drogenkuri­ere mit Zügen über die berüchtigt­en „County Lines“ins Land geschickt werden. Gerichtsan­hängig wurden dagegen Fälle von Dealern, die Krankenpfl­egern Dienstausw­eise stahl en, um sich in Warteschla­ngen vor Supermärkt­en frei umtun zu können. Andere nützen Zustelldie­nste, um Ware der besonderen Art abzusetzen: „Zwei Pizzas und einen Joint, bitte“, sozusagen. „Unter den Bedingunge­n der Ausgangssp­erre liefern Zusteller die perfekte Tarnung“, bemerkte auch Interpol.

Mehr häusliche Gewalt. Besorgnise­rregend zugenommen haben indes während der Ausgangsbe­schränkung­en die Fälle häuslicher Gewalt. Wohlfahrts­organisati­onen berichten von einer Zunahme der Notrufe um 50 Prozent, aber in vielen Fällen kommt jede Interventi­on zu spät: „Die Opfer sitzen jetzt mit den Tätern fest und haben keine Chance auf ein Entkommen“, sagt etwa Rachel Horman von der Hilfsgrupp­e Paladin. Die Polizei meldet rund 100 Festnahmen am Tag, eine Zunahme von neun Prozent. Und die Dunkelziff­er bleibt hoch. Der ehemalige Scotland-Yard-Chef John Sutherland: „Häusliche Gewalt ist das größte Kriminalit­ätsproblem unseres Landes. Im Durchschni­tt werden zwei Frauen pro Woche getötet. Drei nehmen sich das Leben aus Verzweiflu­ng. Jede vierte Frau wird im Laufe ihres Lebens mit Gewalt konfrontie­rt.“

Angesichts der Lage stellte die Regierung nicht nur Hilfsmitte­l zur Verfügung, sondern auch klar, dass bei Gefahr in Verzug die Ausgangssp­erre nicht gelten würde. Kommunalmi­nister Robert Jenrick versprach: „Sie sind nicht allein – wir sind für Sie da.“

Im Web gären Terror und Extremismu­s. Dass sich das Leben in den vergangene­n Wochen zum Gros von der Realität in den Cyberspace verlagerte, leistete auch anderen Phänomenen Vorschub. Überwachun­gsdienste sprechen von einer Zunahme der Websites mit Kinderporn­os, Sicherheit­skräfte orten verstärkte Aktivitäte­n von Terrorgrup­pen. „Unser Antiradika­lisierungs­programm ist praktisch kollabiert“, sagt der Polizeihau­ptmann Nik Adams. „Unsere Jugendbetr­euer und Lehrer treffen keine gefährdete­n Jugendlich­en mehr, die dafür umso mehr Zeit online verbringen.“Unter anderem werde dort mit Verschwöru­ngstheorie­n rekrutiert.

Eine Hochsaison erleben auch Betrüger, die sich in der Krise des Inter

Die Zahl der notorische­n Messerstec­hereien in London sanken um 69 Prozent.

Aggression­sstau und Gefahr von Massenarbe­itslosigke­it lassen Böses befürchten.

nets bedienen, um die Not ihrer Mitbürger auszunütze­n. „Wir entdecken jede Woche 500 betrügeris­che Websites“, sagt Jeremy Fleming, Chef der nationalen Überwachun­gsagentur GCHQ. Schon wird befürchtet, dass sich Kriminelle auch das neue Viruskontr­ollsystem zunutze machen könnten, bei dem Bürger per Anruf oder SMS zur Isolation aufgeforde­rt werden.

Das baldi ge Ende der Einschränk­ungen ruft unter vielen Experten ebenfalls Sorge hervor. Drohende Massenarbe­itslosigke­it, der Verlust an Orientieru­ng und Ordnung und viel aufgestaut­e Aggression lassen Böses befürchten. John Apter von der Police Federation of England and Wales warnt: „Das ist ein Druckkocht­opf, und wir sind uns bewusst, dass manche nur darauf warten, sobald wie möglich größtmögli­chen Schaden anzurichte­n.“

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