Dichter und Stifter der Dichter
Mit 89 Jahren ist Alfred Kolleritsch gestorben. Der Herausgeber der »Manuskripte« und Präsident des Forum Stadtpark förderte viele Autoren. Er war selbst ein bedeutender Poet.
Wenn der Dichter Alfred Kolleritsch über Literaten und ihre für ihn lebendigen Werke sprach, glänzten seine Augen: Bauer, Jelinek, Roth nannte er, Schwab, Mayröcker, die Wiener Gruppe – Artmann, Bayer, Rühm. Eine besondere Beziehung gab es zu Barbara Frischmuth: „Wir haben uns gegenseitig bedichtet. Das war ein großes Erlebnis“, erzählte er einmal der „Presse“. Mit Peter Handke verband ihn eine tiefe Freundschaft seit Anfang der Sechzigerjahre. Er hatte größten Respekt vor dem solitären Werk des Nobelpreisträgers für Literatur, den er stets engagiert verteidigte. Die Augen von Kolleritsch leuchteten, wenn er auch jüngere Autoren lobte – Unterweger, Fritsch, Schmidt, Stangl, Setz . . .
Die Liste ließe sich noch lang fortsetzen. Bei größeren Jubiläen der „Manuskripte“, die Kolleritsch 1960 begründet hatte, konnte es schon sein, dass nicht Dutzende, sondern weit mehr als hundert Beitragende diese Literaturzeitschrift und ihren Herausgeber feierten. Die meisten von ihnen wurden durch ihn von Beginn an gefördert. Viermal im Jahr war ein Heft zu machen. Im April 2020 sollten in Graz und Wien 60 Jahre „Manuskripte“gefeiert werden, die Termine wurden wegen der Pandemie abgesagt. Nun ist es zu spät. Am Freitag ist der große Dichter im 90. Lebensjahr in Graz gestorben.
Alfred Kolleritsch war ein beherzter Gründer. Etwa 1973, als die Grazer Autorenversammlung als Gegenpol zum PEN-Club geschaffen wurde, aber auch schon 1959 beim Forum Stadtpark, einer Aktionsgemeinschaft von Kulturschaffenden, deren Präsident er später wurde. Zuvor hatte der junge Lehrer dem Lyriker Alfred Hergouth Gedichte gezeigt. Dem gefielen sie. „Du, da ist ein neuer Dichter! Der kann gleich mittun!“, rief er dem Maler Günter Waldorf zu. Da brachen die Grazer auf, die Welt der Literatur und anderer Künste zu erobern. So viel war aufzuholen an versäumter Moderne. Die Dichter eroberten die Stadt, die Theater, Bars, Weinstuben und Universitäten. Ihr Leitspruch: Avantgarde. Ihr Gegner: die mächtige Reaktion.
Die Stadt der Volkserhebung hatte viel verdrängt an Untaten. Nun konnte sie sich dem kreativen Neuen öffnen – ein heilsamer Kulturkampf, mit Klagen wegen Pornografie und Ehrenbeleidigung. Einige Gegner meinten offenbar, dieser Lehrer K. könne doch nicht auf Grazer Schüler losgelassen werden. Ob diesen Kritikern bewusst war, dass auch Sokrates vorgeworfen worden war, ein Verderber der Jugend zu sein?
Den pädagogischen Beruf betreibe er wie das Schreiben, sagte Kolleritsch: „in einer möglichst offenen Form“. Er unterrichtete am Akademischen Gymnasium in Graz bis zur Pensionierung 1993. Fröhlich habe er „mit den Schülern Literaturgeschichte betrieben, natürlich auch die moderne“, sagte er.
Wenn er aber Texte daraufhin prüfte, ob sie für seine „Manuskripte“taugten, dann war er streng. „Alfred Kolleritsch ist ein freundlicher Mensch mit einem ziemlich bösen Blick“, schrieb Handke 1995 zu dessen Buch „Der letzte Österreicher“. Am strengsten war Kolleritsch zu sich selbst. Das Eigene brauchte Zeit der Reife, Ablenkungen gab es, wie erwähnt, viele. Als sein erster Roman, „Die Pfirsichtöter“, herauskam, war er bereits 41. Im selben Jahr erschien ein schmaler Sonderdruck mit Gedichten: „erinnerter zorn“. Dabei hatte er mit dem Dichten bereits begonnen, als er 15 war, auf dem Bahnhof in Kalsdorf, zu Allerheiligen, dort sei der Zug länger gestanden: „Ich schaute aus dem Fenster raus zu einem Denkmal, zu Fliederbüschen mit abgefallenem Laub.“Ganz konkrete Poesie.
„Im Vorfeld der Augen“. Ab der Mitte des Lebens war es nun Zeit für Jahre der Fülle: Noch zwei Romane und Erzählbände (persönlich waren ihm mit zunehmendem Alter die Prosatexte nahe), Essays, ein Theaterstück, Marginalien, vor allem aber ein Dutzend Lyrikbände hat Kolleritsch seither veröffentlicht, zuletzt 2020 „Die Nacht des Sehens“. Der schönste ist vielleicht „Im Vorfeld der Augen“1982, ein Konzentrat des Frühwerks sind die ausgewählten „Gedichte“1988, mit einem Vorwort von Handke. Bereits mit dem zweiten Band, „Einübung in das Vermeidbare“, erhielt Kolleritsch 1978 den Petrarca-Preis. Es folgten noch mehr als ein Dutzend hohe Auszeichnungen.
Was macht diesen Autor so rühmenswert? So wie Handke hat er eine ganz eigene, persönliche Sprache, er geht in der Lyrik souverän mit dem freien Versmaß um, verbindet das Anschauliche mit dem Abstrakten, das Offenbare mit dem Misstrauen an der trügerischen Welt der Wahrnehmung. „Meinen Einfällen vertraue ich nicht“, lautet der erste Satz von „Einübung in das Vermeidbare“. Die Sätze, die meist von konkreten Beobachtungen ausgehen, erscheinen oberflächlich gesehen einfach, doch sie erschließen sich nicht leicht. Kolleritsch ist ein Dichter-Denker, völlig vertraut mit Hermetik.
Es hilft, bei der Interpretation ein wenig ins Biografische zu gehen. Geboren am 16. Februar 1931, wuchs er in einem Haus bei einem Schloss auf, wie er es in „Die Pfirsichtöter“beschrieben hat, in Brunnsee in der Südsteiermark. Sein Vater war dort Teich-, Forst- und Jagdverwalter. Alfreds jüngerer Bruder Otto, der spätere Rektor der Musikuniversität Graz, durfte Musik studieren, für den Älteren war geplant, dass er die Nachfolge als Verwalter antritt. So etwas kommt im zweiten Roman, „Die Grüne Seite“, vor. Die Prosa von Kolleritsch ist bestimmt von übermächtigen Vaterfiguren, von Hemmungen, die der Adel in dem Kind verursachte, von pädagogischen Peinigern in der NS-Zeit. „Ich war ein eher ängstliches Kind“, erinnerte er sich. Was er nicht sagte: Er war auch listig und verschmitzt.
Er begann mit dem Dichten, als er 15 war, auf dem Bahnhof in Kalsdorf, zu Allerheiligen. »Die Wahrnehmung zeigt, dass das Verbergen verbraucht ist, die Zeit.«
Ein Ort der Rettung war die Bibliothek des Großvaters. Früh erwachte in Alfred die Liebe zur Philosophie, zu Nietzsche vor allem, zur Sprache und zur Kritik an ihr. Kolleritsch studierte ab 1950 Geisteswissenschaften, dissertierte zudem 1964 über „Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit in der Philosophie Heideggers“. Man sollte sich von der Schlichtheit in der Lyrik des Alfred Kolleritsch, den Versen über die Liebe, die Wunden, die sie schlägt, das Schöne und Bedrohliche in der Natur, über Wald und Sand und Blätter und Teiche, Wege und Gegenwege nicht täuschen lassen. In diesen Texten sind tiefe Gedanken verborgen, von den Vorsokratikern bis zu Wittgenstein. Sie kreisen um letzte Dinge. „Die Wahrnehmung zeigt, / dass das Verbergen verbraucht ist, die Zeit“, heißt es in „Parmenides im Winter“. Von Nacht ist die Rede, verschneiten Feldern, einer Schlittenfahrt. „Hinter der Mauer nimmt eine Möglichkeit der anderen / das Mögliche.“Was bleibt? Das große Gedicht im Band „Absturz ins Glück“scheint im Nichts zu enden: „ . . . kein Gespann, keine Pferde, keine allesverstehende Bahn“. Dennoch, am Ende, die Volte: „Der Wanderer, dem sich zuneigt, was Geduld hat, / entsteht mit den Spuren. Sie hinterlassen die Welt.“