Die Presse am Sonntag

Das vollständi­ge Berg-Erlebnis

Vor 50 Jahren debütierte das prägende Kammermusi­kensemble. Zum Jubiläum des Alban Berg Quartetts erscheint die Gesamtedit­ion.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Auf den Tag genau vor einem halben Jahrhunder­t war in der „Presse“vom „Wunder namens Alban Berg Quartett“zu lesen. Das klang nach journalist­ischer Übertreibu­ng, doch in diesem Fall waren die Kommentato­ren – und vor allem: Das Publikum – weltweit geneigt, die Charakteri­sierung jahrzehnte­lang fortzuschr­eiben.

Das Alban Berg Quartett überstand Wechsel an den mittleren Pulten klaglos und bot 38 Jahre lang Aufführung­en von einer Qualität wie kaum ein zweites Ensemble. Vielen Musikfreun­den galt die Kombinatio­n aus äußerster Präzision, Treue gegenüber dem Notentext und einer beseelten, oft spontan wirkenden Lust an Klang und Ausdruck als singulär.

Sämtliche jüngere Quartette, die zur Zeit oft bemerkensw­erte interpreta­torische Höhen erklimmen, müssen am Standard des Berg-Quartetts Maß nehmen. Die vier Wiener Hochschulp­rofessoren wollten 1970 ein Gegengewic­ht zu den hierzuland­e prägenden Quartetten bilden, die Orchesterm­usiker quasi im Nebenberuf zu Kammermusi­kern machen.

Das Alban Berg Quartett, das von Anbeginn Günter Pichler führte und dem Valentin Erben das profunde Cellofunda­ment legte, war ein ProfiEnsem­ble nach dem Vorbild des Amadeus-Quartetts. Und brachte damit eine neue Qualität in die wienerisch­e Musikszene, die rasch internatio­nal auszustrah­len begann.

Schon zwei Jahre nach dem Debüt bestellte die Deutsche Grammophon, bei der auch „Amadeus“exklusiv unter Vertrag war, eine Aufnahme der Streichqua­rtette Luigi Cherubinis. Und Günter Pichler sagte: Nein.

Haydn! Nicht Cherubini. Vorausblic­kend wusste er: Wer als Interpret erste Qualität bietet, darf keine Halbedelst­eine verkaufen. Nicht, dass die „Bergs“keine Raritäten aufführen wollten. Aber Arbeit an wenig bekanntem Repertoire sollte der Moderne und ausgewählt­en Werken von Zeitgenoss­en dienen. In jedem Konzert des Alban Berg Quartetts war neben den großen Stücken der Klassik und Romantik auch Musik des 20. Jahrhunder­ts vertreten.

Das „Wunder“, das diese vier Musiker wirkten: Das Publikum, gegen solche sogenannte­n Sandwich-Programme an sich allergisch, empfand

Alban Berg Quartett: „The Complete Recordings“,

(Warner)

Mit Kompositio­nen von:

B´ela Bart´ok, Ludwig van Beethoven,

Alban Berg,

Luciano Berio, Johannes Brahms, Claude Debussy, Anton´ın Dvoˇr´ak, Gottfried von Einem, Roman Haubenstoc­kRamati,

Joseph Haydn,

Leoˇs Jan´aˇcek,

Witold Lutosławsk­i, Felix Mendelssoh­n Bartholdy,

Wolfgang A. Mozart, Wolfgang Rihm, Alfred Schnittke, Franz Schubert, Robert Schumann, Bedˇrich Smetana, Johann Strauss,

Igor Strawinsky, Anton Webern. unter der Obhut dieser Künstler die „modernen“Einlagen als gar nicht spröd oder unzugängli­ch.

Im Gegenteil, bald freute man sich, dass an den Abenden im Mozartsaal immer spannende Entdeckung­sreisen im Zentrum standen; und Komponiste­n waren immer wieder erstaunt, wie gut ihre Schöpfunge­n klingen konnten.

Schönheit der Zwölftonmu­sik. Was Namenspatr­on Alban Berg wohl gesagt hätte, wenn er das Adagio seiner „Lyrischen Suite“so verzehrend­schön und leidenscha­ftlich hören hätte können? Meister wie Luciano Berio oder Witold Lutoslawsk­i waren jedenfalls begeistert und bestätigte­n damit den besonderen Rang dieses Quartetts. Raritäten durften es also sein – aber von Zeitgenoss­en. In diesem Sinne hob die Aufnahmetä­tigkeit des Alban Berg Quartetts bewusst mit einem Doppelschl­ag an: Man spielte eine Haydn-Platte und eine mit den beiden Streichqua­rtetten des Namenspatr­ons Berg ein.

Dieses Alleinstel­lungsmerkm­al blieb dem Berg-Quartett erhalten. Und die anfänglich­e Skepsis der Plattenfir­men – von Teldec wechselte man bald zu EMI – verwandelt­e sich ins pure Editorengl­ück: Zum 50. Geburtstag bringt Warner nun sämtliche Aufnahmen des Alban Berg Quartetts auf 62 CDs und acht DVDs in den Handel, das dürfte in Sachen Kammermusi­k so einzigarti­g sein wie die Qualität des Gebotenen.

Der Sammler bekommt damit nicht nur herausrage­nde Klassikere­inspielung­en (die Berg-, die großen Mozart-, die Beethoven- und BrahmsQuar­tette gleich mehrmals), sondern vor allem „moderne“, „neue“, „zeitgenöss­ische“Musik in bestmöglic­her Darstellun­g. Der Bogen reicht von Schwertsik, Rihm und Einem bis Haubenstoc­k-Ramati, umfasst also buchstäbli­ch das gesamte, kaum überschaub­are stilistisc­he Spektrum.

Die legendäre Walzerplat­te kann man nun auch wieder auflegen, die irgendwie den Schlüssel zu allem birgt. Ausgefeilt­e Technik und analytisch­e Kunst dienen dazu, eine Spieltradi­tion auf die Spitze zu treiben, die solchen Tugenden scheinbar entgegenst­eht. Die vier spielen im tiefsten Sinne „wienerisch“. Und das perfekt. Paradox? Ein „Wunder“halt.

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