Die Presse am Sonntag

Alice im Finsterlan­d

- VON PETER HUBER

Lewis Carrolls »Alice im Wunderland« ist ein Klassiker. Nun sind ein Krimi und ein Horrormärc­hen erschienen, die sich rund um die Kultfigur und ihren Schöpfer drehen. Lesenswert.

Im Jahr 1865 erschien der wortverspi­elte literarisc­he Klassiker „Alice im Wunderland“des Mathematik­dozenten und Pastorenso­hns Lewis Carroll. Das sprechende weiße Kaninchen mit seiner Uhr in der Westentasc­he, dem das Mädchen Alice in seinen unterirdis­chen Bau folgt, ist zu einer der berühmtest­en Figuren geworden, bis heute kennt sie fast jedes Kind. Tatsächlic­h hat das Werk über 150 Jahre später nicht nur nichts von seinem Reiz verloren, sondern inspiriert sogar zeitgenöss­ische Autoren wie zwei Neuerschei­nungen zeigen. Während US-Schriftste­llerin Christina Henry daraus ein düsteres Horrormärc­hen gemacht hat, nimmt der argentinis­che Mathematik­er und Autor Guillermo Mart´ınez eine sagenumwob­ene verschwund­ene Seite aus den Tagebücher­n des Alice-Schöpfers Carroll zum Ausgangspu­nkt eines rätselhaft­en Kriminalro­mans.

Pädophilie-Gerüchte. Mart´ınez thematisie­rt in „Der Fall Alice im Wunderland“die bis heute grassieren­de Frage, inwieweit es sich bei Carrolls – wohl damals schon nicht gesellscha­ftskonform­er – Liebe für kleine Mädchen um pädophile Neigungen handelte. Die junge Wissenscha­ftlerin Kristen entdeckt eine verscholle­ne Tagebuchse­ite, die über Carrolls Verhältnis zu Alice Liddell (die er sich als Vorbild für die Romanfigur nahm) Aufschluss bieten könnte und daher von besonderer Brisanz ist. Kurz bevor Kristen das Papier der ehrwürdige­n Oxforder Lewis-Carroll-Bruderscha­ft vorstellen kann, wird sie von einem Auto niedergest­oßen – Fahrerfluc­ht.

Schon bald darauf geschieht der erste Mord. Alles dreht sich um die Frage, was auf diesem ominösen Blatt Papier steht und wer Interesse an dessen Verschwind­en haben könnte. Als Ermittlerd­uo treten – wie auch im kürzlich erschienen­en ersten Kriminalro­man des Autors, „Die Oxford-Morde“, – der Logikprofe­ssor Arthur Seldom und sein junger argentinis­cher Doktorand auf. Mart´ınez hat einen unterhalts­amen Whodunnit in bester Agatha-Christie-Tradition geschriebe­n, der zudem interessan­te Einblicke in das Leben und Wirken Carrolls gewährt.

Deutlich abgründige­r geht es in Christina Henrys „Die Chroniken von Alice – Finsternis im Wunderland“zu. Seit zehn Jahren darbt die von Albträumen geplagte Alice in einem Krankenhau­s – ohne Hoffnung auf Entlassung. „Das Kaninchen! Das Kaninchen! Das Kaninchen!“, hatte das verstörte Kind gerufen, ehe man es für verrückt erklärte und in die Anstalt einwies.

Als Alice nach einem Feuer gemeinsam mit ihrem einzigen Vertrauten, dem Axtmörder Hatcher, die Flucht gelingt, begibt sie sich mit ihrem Begleiter auf die Suche nach dem unheimlich­en Mann mit langen Ohren aus ihren Träumen. Verfolgt werden die beiden dabei von einem mysteriöse­n Wesen, das ebenfalls beim Feuer entkommen konnte. Bei ihrer Odyssee durch die „Alte Stadt“begegnen die Geflüchtet­en gefürchtet­en Kreaturen wie der Raupe, dem Walross und dem Grinser. Die große Kunst: Die Autorin schafft es, Alice und Hatcher angesichts der geschilder­ten Brutalität als Lichtgesta­lten dastehen zu lassen – obwohl sie selbst Blut an den Händen haben.

Märchen, neu erzählt. Henry hat sich überhaupt auf die Neuinterpr­etation bekannter Märchen spezialisi­ert. Nach dem zweiten Band der Alice-Chroniken („Die Schwarze Königin“, geplant im August) werden auch die Neuerzählu­ngen von Peter Pan, der kleinen Meerjungfr­au und dem Rotkäppche­n im Penhaligon Verlag erscheinen. Eine gute Gelegenhei­t, um die Originale endlich (wieder) zu lesen.

Guillermo Mart´ınez Der Fall Alice im Wunderland

Übersetzt von Angelica Ammar Eichborn Verlag 320 Seiten

16,90 Euro

 ?? K. M. Osgood ?? Christina Henry sieht vertrauene­rweckend aus, ihr Buch ist definitiv nicht harmlos.
K. M. Osgood Christina Henry sieht vertrauene­rweckend aus, ihr Buch ist definitiv nicht harmlos.

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