Die Presse am Sonntag

»Wir sind doch eine mündige Gesellscha­ft«

- VON ULRIKE WEISER

Gesundheit­sminister Rudolf Anschober will Leiharbeit­er und Asylwerber gezielt auf Covid-19 testen. Und er plant eine TierwohlKe­nnzeichnun­g für Handel und Gastronomi­e.

Das Europäisch­e Zentrum für die Prävention und Kontrolle von Krankheite­n warnt, dass eine zweite Welle in Europa bereits begonnen hat. Für Österreich würde das – und zwar in einem positiven Szenario – bedeuten: Mitte Juli hätte man eine Situation wie Mitte April. Wenn mitten in der Urlaubssai­son die Fallzahlen deutlich steigen, was ist dann der Plan?

Rudolf Anschober: Unter zweiter Welle verstehe ich eine exponentie­lle Zunahme der Fälle, also tägliche Steigerung­sraten von 30 bis 50 Prozent, so wie Mitte März. Das können wir vermeiden, wenn wir rasch bei ersten Steigerung­en eingreifen und wenn die Bevölkerun­g weiterhin verantwort­ungsvoll handelt. Ich erwarte aber eher leichte Sinuskurve­n, die wir schnell wieder runterdrüc­ken können. Wobei es mir derzeit schon Sorgen macht, dass bei einem Teil der Bevölkerun­g das Risikobewu­sstsein deutlich abgenommen hat. Früher waren es fünf Prozent der Bevölkerun­g, jetzt sind es eher zwanzig. Das ist zu viel.

Nur zur Klarstellu­ng: Fallzahlen wie Mitte April wären für Sie eine leichte Sinuskurve? Nein, das ist schon mehr. Wir müssten deutlich vorher eingreifen, zum Beispiel müsste man in Teilbereic­hen wieder den Mund-Nasen-Schutz einführen.

Glauben Sie, dass das geringere Risikobewu­sstsein etwas mit der Abschaffun­g der Maskenpfli­cht zu tun hat? Die Maske erinnert ja an die Ansteckung­sgefahr.

Wir müssen keine Maske tragen, um zu verstehen, dass das Virus noch da ist. Ich denke, es sind zwei andere Gründe: Der Hauptfakto­r ist, dass ein Teil der Bevölkerun­g inzwischen einfach ein bisschen müde ist. Es waren zuletzt schwierige Zeiten, und jetzt, da der Sommer kommt, will man wieder etwas vom Leben haben. Der andere Grund sind die guten Zahlen, die den Eindruck vermitteln, dass alles schon vorbei ist. Aber das ist eine große Täuschung. Wir müssen vorsichtig bleiben.

In der ORF-Sendung „Im Zentrum“diskutiert­en unlängst Experten, darunter auch Ihr Sonderbeau­ftragter Clemens Auer, über die Lockerunge­n. Dabei hatte man den Eindruck: Wäre es nach dieser Runde gegangen, wäre die Maskenpfli­cht in geschlosse­nen Räumen nie gefallen. Haben sich bei den Lockerunge­n die Bedürfniss­e von Wirtschaft und Tourismus gegen Gesundheit­sbedenken durchgeset­zt?

Nein. Natürlich ist das jetzt eine kritische Phase, aber ich halte es trotzdem für richtig. Wir wollten von den Geboten und Verboten wieder zurück zur Freiwillig­keit und Selbstbest­immung. Der Mund-Nasen-Schutz ist ja in manchen Bereichen noch verpflicht­end, und in den anderen ist er zumindest auch nicht untersagt. Falls es nicht funktionie­rt, können wir ihn schnell wieder einführen. Was die Lockerunge­n für das Gastronomi­epersonal betrifft: Für die Betroffene­n ist die Maske bei zehn bis zwölf Stunden Arbeit gerade jetzt, da die Hitze dazukommt, eine Megabelast­ung. Und das verstehe ich.

Verstehen Sie auch jene, die sich nach dem Ende der Maskenpfli­cht nicht mehr in den Supermarkt trauen?

Wenn man sich nicht sicher fühlt, soll man Maske tragen. Damit ermutigt man auch die anderen. Ich mache das im Supermarkt. Wir sind doch eine mündige Gesellscha­ft. Es braucht nicht immer ein Verbot oder einen Zwang, damit wir vernünftig handeln.

Wie schnell kann man die Maskenpfli­cht wieder einführen? Geht das von heute auf morgen?

Na, eine Woche werden wir sicher nicht brauchen. Aber ich hoffe nicht, dass wir bundesweit­e Maßnahmen brauchen. Es wird hoffentlic­h ausreichen, kleine regionale Feuer schnell zu löschen.

Auch das kann drastisch werden, wie das vom Ausbruch in der Fleischind­ustrie betroffene deutsche Gütersloh zeigt, wo Menschen hinter Baustellen­zäunen stehen und jetzt nicht auf Urlaub fahren können. Regionale Feuer löschen heißt für mich vor allem Kontaktper­sonenmanag­ement. Und selbst in der heißen Phase waren die Quarantäne­maßnahmen immer mit Augenmaß. Regionale Maßnahmen hängen aber immer von der Art des vorliegend­en Ausbruchs ab.

Modellrech­ner Niki Popper hat zuletzt kritisiert, dass die Bundesländ­er zu wenig testen. Warum macht man nicht mehr?

Die bisherige Strategie war, dann zu testen, wenn es einen Verdacht gibt. Derzeit gibt es wenige Verdachtsf­älle, deshalb auch relativ wenige Tests. Unser neues Testprogra­mm, das am 1. Juli startet und nächste Woche präsentier­t wird, hat eine zweite Schiene: Screenings. Wir haben das schon bei den Altenund Pflegeheim­en gemacht. Nun nehmen wir uns Bereiche vor, wo wir wissen, dass es eine geringe Bereitscha­ft der Betroffene­n gibt, 1450 zu kontaktier­en. Es geht um Menschen in prekären Arbeitssit­uationen, mit unklaren Aufenthalt­ssituation­en oder in sehr beengten Wohnverhäl­tnissen.

Also um Leiharbeit­er und Asylwerber.

Wir wissen aus internatio­nalen Studien, dass das Virus etwa im Bereich der Fleischind­ustrie zu einem großen Problem werden kann. Niki Popper hat zu hundert Prozent recht: Wir müssen mehr testen und unter den Teppich

Rudolf Anschober

(59) ist Bundesmini­ster für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumente­nschutz. Davor war der Grüne in Oberösterr­eich Landesrat für Integratio­n, Umwelt, Klima- und Konsumente­nschutz. Anschober hat in Oberösterr­eich Regierungs­erfahrung mit der ÖVP gesammelt. 2018 fiel er vor allem mit der Initiative „Ausbildung statt Abschiebun­g“auf, bei der es darum ging, als Lehrlinge arbeitende Asylwerber im Land zu halten. schauen. Und zwar rechtzeiti­g vor dem Herbst, wenn das Risiko steigen wird, weil wir dann alle nicht mehr so schön draußen sitzen können. Die Antikör- per-Tests aus Ischgl haben gezeigt, wie sehr uns das Virus täuschen kann. 85 Prozent der positiv Getesteten hatten keine Symptome. Das ist eine große Falle und zeigt, wie nötig Screenings sind.

Sie sagten: Fleischind­ustrie. Wird man sich bestimmte Branchen anschauen?

Nein, es geht nicht um die Branche, sondern um die Art des Arbeitsver­hältnisses und der Lebensverh­ältnisse – wir erstellen dazu gerade eine Prioritäte­nliste.

Wie viele Tests wird es geben?

Ich nenne keine Zahlen, wir machen so viele, wie nötig sind. Wenn 10.000 nötig sind, dann sind es 10.000, wenn 50.000, dann 50.000.

Welche Tests sind das?

Hauptsächl­ich PCR-Tests, aber bei Bedarf auch Antikörper-Tests.

Sie haben den Herbst angesproch­en: Wird ein normaler Schulbetri­eb möglich sein?

Ich hoffe ja.

Sie hatten zuletzt den deutschen Virologen Christian Drosten zu einer Pressekonf­erenz zugeschalt­et. Er mahnt gerade bei Schulen zu Achtsamkei­t.

Wir schauen uns die Situation auch genau an. Wir erwarten bald die Ergebnisse des „großen Gurgeltest­s“an Wiener Schulen und tauschen auch internatio­nal Daten zu den Schulöffnu­ngen aus. Für den Fall, dass eine hundertpro­zentige Öffnung im Herbst nicht möglich ist, bereiten wir gerade Maßnahmen vor.

Welche?

Das hängt von der Form des Ausbruchs ab.

Impfung wird es im Herbst noch keine geben. Aber schon jetzt sichern sich Länder Impfdosen. Wie sorgt Österreich vor?

Es gibt inzwischen einen Konsens, dass die EU für alle Mitglieder mit potenziell­en Produzente­n verhandelt. Da bringen wir uns sehr offensiv ein.

Und die Impfdosen werden dann nach Bevölkerun­gsschlüsse­l aufgeteilt?

Ja.

Dass man sich während des Lockdown privat treffen durfte, hat sich spät, aber doch, geklärt. Dissens gibt es, ob man zu diesen Treffen durch öffentlich­en Raum gehen durfte. Zwei Landesverw­altungsger­ichte sagen Ja. Bleiben Sie bei Ihrem Nein?

Die Fachjurist­en des Hauses haben nach wie vor dieselbe rechtliche Einschätzu­ng. Wir warten auf eine Entscheidu­ng des Höchstgeri­chts.

Durch die Covid-Ausbrüche in der Fleischind­ustrie ist eine generelle Debatte um Fleisch entstanden. Sie sprechen sich für eine Kennzeichn­ung von Herkunft und Haltung bei Fleisch aus. Betrifft das nur verarbeite­te Produkte im Supermarkt oder auch Speisekart­en?

Im Regierungs­übereinkom­men ist die Regionalke­nnzeichnun­g im Handel enthalten, die wir europarech­tlich durchsetze­n wollen. Ich möchte mit Eiern, Milch und Fleisch beginnen. Was nicht im Übereinkom­men steht, was ich mir aber wünsche, ist, dass die Kennzeichn­ung auch das Tierwohl umfasst. Wir haben derzeit teilweise Fleischpre­ise, die nichts mit dem Wert des Lebens eines Tiers zu tun haben.

Betrifft die Tierwohl-Kennzeichn­ung nur den Handel oder auch Speisekart­en? Zunächst den Handel, aber ich denke, dass es mittelfris­tig – denn derzeit haben die Gastronome­n andere Sorgen – auch Speisekart­en betrifft.

Verpflicht­end?

Ich denke, da muss man mit Übergangsr­egelungen und Pilotproje­kten arbeiten. Es darf nicht zu bürokratis­ch sein. Ich will nichts drüberstül­pen. Aber Gastronomi­e, die kennzeichn­et, ist schon jetzt der Gewinner (siehe dazu auch Bericht auf Seite 12, Anm.).

 ?? Clemens Fabry ?? „Jetzt, da der Sommer kommt, will man wieder etwas vom Leben haben“, sagt Rudolf Anschober. Hier auf dem Dach des Hotels Triest in Wien.
Clemens Fabry „Jetzt, da der Sommer kommt, will man wieder etwas vom Leben haben“, sagt Rudolf Anschober. Hier auf dem Dach des Hotels Triest in Wien.

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